Artikel aus dem Hope Magazin

27.11.2020

Neuland

Ein Jubiläum, dass ein wenig blass bleibt

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30 Jahre Deutsche Einheit. 

Ein Jubiläum, das im Pandemie-Hin-und-Her ein wenig blass bleibt für meinen Geschmack. Ich habe nur ein paar Jahre in der DDR gelebt und keine bewusste Erinnerung an diesen Staat. Vielleicht finde ich dieses Thema deshalb auch so spannend. Denn trotzdem macht es einen Teil meiner Identität aus. Meine Eltern und Großeltern sind in diesem System aufgewachsen bzw. haben dort gelebt und so spielt ihre Prägung auch bei mir eine Rolle.

 

Ich bin ein Ossi und seit ich im Westen arbeite, wird mir das sehr viel häufiger bewusst. Immer wieder höre ich mich sagen: Ich mach das soundso, ich bin halt ein Ossi. Und oft meine ich es positiv: ich brauch keine Anleitung oder Aufforderung, sondern packe an, wo es nötig ist, ich weiß mir zu helfen und finde kreative Lösungen, bin selbstständig und mehr aufs Gemeinwohl bedacht. Natürlich gibt’s auch Schattenseiten: ich sage schneller Ja und Amen, füge mich in Hierarchien, bin leidensbereiter. Sicher treffen diese Dinge nicht auf jeden zu, der im Osten Deutschlands aufgewachsen ist, doch jeder hat eben so seine Vorstellungen im Kopf.

Obwohl nach der Wende das nächste Neuland anfing, blieben viele Stereotypen und Klischees bestehen. Ossis, das sind die, die staunend in den großen Kaufhäusern standen, überwältigt und überfordert von dem ganzen Konsum, der sich vor ihren Augen ausbreitete. Kannten sie doch bisher nur den kleinen Konsum um die Ecke. Und die Wessis erst, durch und durch vom Kapitalismus verdorben und können nicht mal einen Nagel in die Wand hauen … 

Ob Ost oder West, man kann seine Sozialisation nicht einfach abstellen, loswerden oder ignorieren. Deshalb plädiere ich für Offenheit und Auseinandersetzung: mit anderen und mit sich selbst. Nicht zu denken: Kenn ich doch alles, weiß ich Bescheid! – weil dir die fünf Vorurteile für die nächsten 30 Jahre reichen –, sondern zu sagen: Erzähl mal! Deine Geschichte, deine Erfahrungen, deine Sicht der Dinge kenne ich noch nicht. Lasst uns offen sein, Neuland zu erkunden, wo und in welcher Form auch immer es uns begegnet. Um Gemeinsamkeiten zu finden, auf denen man aufbauen kann.

Bild vom Autor zum Weblog Neuland

Autor: Nicole Spöhr

Nicole Spöhr hasst diesen Unterton mancher Leute, wenn sie "Ostdeutschland" sagen. Sie ist in Mecklenburg aufgewachsen und liebt die einzigartig hohe Seen- bzw. Wasserquote dort. 2015 hat es sie als Redakteurin beim Advent-Verlag dann doch in den Westen verschlagen – ach, sagen wir einfach: zurück in den Norden.