Artikel zum Thema "Glaube"

01.06.2022

„Liebt eure Feinde“ – wie jetzt?

Über Widersprüche, verletzte Gefühle und Agape

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„Ich kann ihm nicht vergeben!“, schrie er wutentbrannt. „Gott kennt mein Herz“. Mit zitternden Händen stand er im Raum, dann machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte hinaus in die Dunkelheit. Betroffen schauten sich die Anwesenden an. Was war mit dem Mitarbeiter ihrer Kirchengemeinde geschehen? Er war doch bisher immer ein freundlicher und geduldiger Mann gewesen,

Was manche nicht wussten, war, dass der Mann von einem Kirchenmitglied um viel Geld betrogen worden war. Dadurch waren seine Pläne und Lebensträume nur noch ein Scherbenhaufen. Das hatte ihn tief getroffen. Er konnte dem Betrüger nicht vergeben, auch wenn Jesus in der Bergpredigt gefordert hatte: „Liebt eure Feinde!“ (Mt 5,44).

Feinde lieben – kann man das überhaupt? Ist das nicht graue Theorie? Kommen selbst Christen dabei nicht an ihre Grenzen?

Widersprüche

Wir alle stehen in der Gefahr, über moralische Grundsätze zu reden, ohne sie auszuleben. Wir sprechen von Liebe und Vergebungsbereitschaft, aber sind nachtragend, wenn wir beleidigt werden. Wir fordern Verständnis, aber sind eingeschnappt, wenn sich jemand anders verhält, als wir es von ihm erwarten. Wir rufen nach Toleranz, aber sind sauer, wenn man uns widerspricht. Wir diskutieren über Gemeinschaftssinn, aber können denjenigen nicht ausstehen, der nicht unseren Forderungen nachkommt. – Aber sind wir deswegen Heuchler? Ich denke nicht! Wir sollten einen Unterschied machen zwischen dem, was wir von ganzem Herzen beabsichtigen und dem, was wir tatsächlich tun oder unterlassen.

Verletzte Gefühle

Dieser Widerspruch entspringt unseren verletzten Gefühlen. Es ist ein typisch menschliches Problem, dass wir uns in unserem Denken und Verhalten oft nicht von unseren Grundsätzen und Überzeugungen leiten lassen, sondern von unguten Gefühlen. Aus diesen negativen Gefühlen entstehen nämlich negative Gedanken, die wiederum unsere negativen Gefühle verstärken – ein regelrechter Teufelskreis! So stehen wir häufig im Widerstreit unserer negativen Gefühle gegenüber dem Mitmenschen und unserer Absicht, ihn zu schätzen oder sogar zu lieben.

In diese Situation spricht das Wort Jesu: „Liebt eure Feinde!“ Sicherlich haben Sie schon gehört, dass im Neuen Testament verschiedene Worte für den Begriff „Liebe“ verwendet werden, die alle einen anderen Fokus haben. 

„Philia“ ist z. B. ein Wort der Sympathie, der engen Verbundenheit und herzlichen Zuneigung. Manche Christen meinen, Jesus fordere diese Art von Liebe gegenüber Feinden. Wäre dies der Fall, stünden wir vor einem riesigen Problem. Wer kann schon herzliche Gefühle der Zuneigung entwickeln, wenn er brutal geschlagen wird, wenn man ihn seelisch fertig macht oder gar in Kriegszeiten die eigene Familie vor seinen Augen niedermetzelt? Eine solche Liebe würde wahrscheinlich unser Vermögen übersteigen und höchstens einigen wenigen Auserwählten möglich sein.

Agape – was ist das?

Jesus benutzt jedoch ein anderes Wort für die Feindesliebe, nämlich „Agape“. Agape hat mit unserer Gesinnung und unserem Willen zu tun. Sie ist nicht einfach ein Gefühl, das ungebeten in unserem Herzen aufsteigt, sondern vielmehr ein Prinzip, nach dem wir bewusst leben. Sie weist unsere unguten Gefühle in ihre Schranken.

Ich glaube, niemand von uns hat seine persönlichen Feinde von Natur aus gern oder entwickelt Gefühle der Zuneigung und Sympathie für sie. Unsere natürlichen Neigungen und Gefühle reißen ja gerade den tiefen Graben zwischen uns und dem Mitmenschen auf. 

Die christliche Liebe (Agape) ist also keine rein gefühlsmäßige Erfahrung, die wir ungewollt machen, sondern ein Prinzip unserer Lebenshaltung, ein Sieg des Willens. Sie ist die Einstellung, die sagt: „Ganz gleich, was ein Mensch mir antut, ich will ihm nie Schaden zufügen, ich will mich nicht rächen, ich will immer nur sein Bestes im Sinn haben. Ich will ihm Gutes tun und Gutes von ihm denken.“

Jesu Grundsatz von der Feindesliebe bedeutet also: „Stelle deine Grundsätze, deine wahren Absichten über deine unguten Gefühle! Rede Gutes über alle, die Schlechtigkeiten über dich verbreiten. Tue Gutes an denen, die dir Böses antun.“ – Das mag im ersten Moment paradox klingen, doch in diesem Sinne verantwortlich zu Denken und Handeln wird unsere Gefühlswelt mit Sicherheit positiv beeinflussen und damit unser Leben bereichern. So können wir Liebe auch an den Unsympathischen, den Unbequemen, den Hasserfüllten weitergeben, an alle, die uns innerlich fernstehen – sodass sie von dieser Agape-Liebe angesprochen werden.

 

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Autor: Siegfried Wittwer

Artikel-Bildnachweis: Miiicha – gettyimages.de