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Denkst du noch oder grübelst du schon?
Judith Leitner über den feinen Unterschied zwischen Denken und Grübeln
Maria liegt wach – es sind schon wieder ihre Gedanken, die sie nicht schlafen lassen. Gedanken über das heutige Gespräch mit dem Chef, irgendwie hat er sie so ernst angeschaut. Es ist geplant, dass zwei Abteilungen zusammengelegt werden, vielleicht wird sie dann im Team nicht mehr gebraucht. Noch dazu hat sie ihre Prüfungsergebnisse bekommen, und leider hat es um zwei Punkte nicht gereicht. Und da war noch das Telefongespräch mit Tante Berta. Ihr geht es nicht so gut, und Maria hat das Gefühl, sich zu wenig um sie zu kümmern. Aber wann soll sie das denn auch noch unterbringen? Und überhaupt, eine gute Organisatorin war sie noch nie. Generell kommt es ihr so vor, als ob alles, was sie anpackt, nicht gelingen will. Eigentlich hat sie schon lange nichts mehr von ihrer besten Freundin gehört. Ob wohl etwas zwischen ihnen steht?
Auf einmal überkommt Maria ein tiefes Gefühl der Einsamkeit und der Hilflosigkeit. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, und sie fühlt sich wie im Karussell – nur, dass die Fahrt weder lustig ist noch irgendwann zu Ende geht. Irgendwann schläft sie dann doch endlich ein ... Kommt Ihnen das bekannt vor?
„HÄTTI, WARI, WÄRI!“ (zu Deutsch: „Hätte, Hätte, Fahrradkette“)
„Vielleicht sollte ich“ oder „Bin ich dafür gut genug?“ – damit beginnen oft die Grübeleien, und dann kann man nicht so schnell wieder damit aufhören. Warum ist Grübeln eigentlich schlecht und wie kann man es stoppen? „Ich denke eben gern“, mögen Sie jetzt sagen. Ob das schon Grübeln ist? Dann machen Sie doch nächstes Mal, wenn Sie sich „beim Denken erwischen“ einen einfachen Test: Verfolgen Sie Ihre Gedanken zwei Minuten lang. Im Anschluss beantworten Sie die folgenden Fragen für sich:
- Habe ich etwas verstanden, was mir vorher nicht ganz klar war?
- Bin ich einer Lösung nähergekommen?
- Fühle ich mich jetzt wohler und glücklicher?
Wenn Sie die Fragen mit „Nein“ beantworten müssen, haben Sie wohl gegrübelt. Grübeln und Nachdenken muss unterschieden werden. Beim Grübeln geht es meist darum, über Dinge zu brüten, die schief gelaufen sind. Wir stellen uns unbeantwortbaren Fragen oder widmen unsere Aufmerksamkeit negativen Ereignissen oder Gefühlen der Vergangenheit sowie unseren Schwächen. Beim Nachdenken hingegen geht es häufig darum, wie wir etwas verändern oder eine Situation gut bewältigen könnten.
In unserer Nachbarschaft wohnen ganz herzallerliebste Ziegen, die wir gerne besuchen, um sie zu streicheln oder zu füttern. Dabei fällt mir immer wieder etwas Spannendes auf. Ganz aus dem Nichts würgt die eine oder andere Ziege, und auf einmal ist offensichtlich das Maul voll, und der Kauprozess wird ganz fleißig gestartet. „Ja, so wie die Kühe sind Ziegen eben Wiederkäuer“, mögen Sie jetzt sagen. Stimmt, und klinische Psychologen haben vor vielen Jahren für das Grübeln genau dieses Bild gewählt. Sie nennen es in der Fachsprache Rumination – den biologischen Fachbegriff für das Wiederkäuen. Im Unterschied zu Kuh und zu Ziege werden Menschen beim Ruminieren traurig und fühlen sich ihren unkontrollierbar erscheinenden Gedanken ausgeliefert (Papageorgiou & Wells, 2003).
GRÜBELN, UND DANN?
Grübeln ist wie das Reiten auf einem Schaukelpferd: Man ist beschäftigt, aber kommt nicht vom Fleck. Abgesehen davon, dass es keine Ergebnisse bringt, kann es unsere Gesundheit stark beeinträchtigen. Es gibt keine objektive Gradmessung, ab wann uns Grübeln schadet. Sobald man aber in seinem Alltag und beim Einschlafen dadurch beeinträchtigt wird, ist es an der Zeit, etwas zu unternehmen. Denn wer viel grübelt, neigt eher zu depressiven Verstimmungen, und so mancher Rückfall in die Depression hat mit dem Grübeln begonnen. Frauen sind häufiger betroffen, aber Grübeln per se ist nicht angeboren. Ob wir eine Tendenz zum Grübeln haben, hängt von vielen Faktoren ab, vor allem aber von gesammelten Erfahrungen und unserer Persönlichkeit. Maria zum Beispiel empfindet sich selbst als unsicheren Menschen, hat Veränderungen nicht so gern und gleichzeitig einen hohen Anspruch an sich selbst. Sie hat das Gefühl, dass sie nicht immer so viel Einfluss auf ihre Situation nehmen kann, wie sie es sich wünscht. Beim Grübeln hat sie – zumindest kurzfristig – das Gefühl, etwas zu unternehmen und sich mit ihrem Leben auseinanderzusetzen. Nach dem Grübeln jedoch spürt sie, wenn sie es sich eingesteht, dass es ihr leider schlechter geht als davor.
In Studien konnte man beobachten, dass der negative Effekt des Grübelns besonders stark ausfällt, wenn man bereits zuvor in einer gedrückten Stimmung war. Dann tritt eine zusätzliche Stimmungsverschlechterung ein, und zahlreiche Aufgaben konnten schlechter bewältigt werden. Eine Lösung für zwischenmenschliche Konflikte zu finden, war dann schwerer, die Konzentration war schlechter und beim Treffen von Entscheidungen gab es größere Schwierigkeiten. Sogar persönliche Erinnerungen fallen negativer aus, und es war schwerer, sich an spezifische Erlebnisse aus der Vergangenheit zu erinnern.
AUSSTEIGEN AUS DER GRÜBEL-SPIRALE
Jetzt haben wir genug übers Grübeln gegrübelt. Jetzt heißt es: Aussteigen! Zuerst ist es sicher hilfreich, zu wissen, dass Grübeln eine Denkgewohnheit ist und man Gewohnheiten ändern kann. Deshalb ist es sinnvoll, sich selbst erst einmal gut zu beobachten. Wann, in welchen Situationen und an welchem Ort grüble ich? Es hilft, sich das und auch den Inhalt der Grübeleien während einer Woche zu notieren. Dabei sollte man sich selbst nicht verurteilen. Bis jetzt gleicht das Grübeln eher einem Automatismus. Während dieser Woche wird man beobachten können, dass man immer früher bemerkt, wenn man grübelt. Immer wenn man dann spürt, dass man zu grübeln beginnt, kann man mit einigen praktischen Tipps diesen Automatismus unterbrechen lernen.
- Gedankenstopp – dies ist eine Methode aus der Verhaltenstherapie, die in diesem Fall dem Betätigen der Bremse vor einer Kreuzung gleichkommt. Sobald man den negativen Gedankenfluss bemerkt, sagt man innerlich oder laut „STOPP, ich grüble gerade und komme damit nicht weiter!“
- Direkt danach ist es ratsam, aktiv zu werden. Rufen Sie jemanden an, lesen Sie ein Buch oder machen Sie Sport. Ein kleiner Spaziergang um den Block kann auch Wunder wirken. Achten Sie dabei auf Kleinigkeiten wie das Singen der Vögel, einen Käfer, der Ihren Weg kreuzt, oder vielleicht blühen gerade schöne Blumen, die man bewundern kann?
- Nehmen Sie Ihr Leben aktiv in die Hand. Beim Abgewöhnen des Grübelns geht es nicht darum, den Problemen davonzulaufen, sondern um die negative Gedankenspirale zum Schutz Ihrer Gesundheit zu beenden. Drehen sich die Gedanken um einen Konflikt in Ihrer Familie, um Ihre Arbeit, um eine nichtbestandene Prüfung? Dann wandeln Sie die Grübeleien in eine Problemlösung um! Definieren Sie sowohl das Problem als auch das Ziel und suchen Sie nach Lösungsschritten in zeitlicher Abfolge. Suchen Sie nach Lösungen und planen Sie kleine Schritte, um die Lage zu verbessern. Das Gespräch mit einer vertrauten Person kann dabei helfen.
- Sie „erwischen“ sich trotzdem immer wieder beim Grübeln? Dann planen Sie regelmäßig ein Zeitfenster ein (das mindestens zwei Stunden vor dem Schlafengehen beendet ist), stellen Sie sich einen Wecker und verschriftlichen Sie, was Ihnen durch den Kopf geht. Achten Sie darauf, in einer guten Stimmung zu sein. Denken Sie auch bewusst daran, was Sie bereits Positives erlebt und erreicht haben und wofür Sie dankbar sein können. Auf diese Weise können Sie die Grübel-Themen ordnen und Stück für Stück eine konstruktive Herangehensweise an Problemstellungen erlernen. Zeit, die man vorher mit negativem Grübeln verbracht hat, kann jetzt sinnvoll und positiv gefüllt werden.
Es kann helfen, sich bewusst zu machen, dass wir unseren Gedanken nicht machtlos ausgeliefert sind. Unser Gehirn ist wie ein großes Straßennetz. Je öfter ein Gedanke gedacht wird, umso mehr wird er vom kleinen Wiesen-Trampelpfad zur gut ausgebauten Autobahn. Wenn wir also bewusst unsere Gedanken lenken und mit gutem Inhalt füllen, wird es uns nach und nach leichter fallen, die Welt und uns selbst mit wohlwollenden und dankbaren Augen zu sehen.
Artikel aus "Leben & Gesundheit", Advent-Verlag Schweiz, mit freundlicher Erlaubnis.
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Autor: Judith Leitner
Psychologie BSc und in Ausbildung zur Lebens- und Sozialberaterin, glücklich verheiratet und mit 2 Kindern gesegnete Mama
Artikel-Bildnachweis: izusek – gettyimages.de