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01.06.2023

Ein Plädoyer für die Stille

Vom alltäglichen Grundrauschen und der aktiven Suche nach Ruhe

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Ich fahre gerne mit der Bahn. Ich liebe es, in die rollenden stählernen Kästen einzusteigen, mich auf einen Fensterplatz zu setzen und vor mich hinzudösen. Während die wechselnden Landschaften vorübergleiten, kann ich meinen eigenen Gedanken nachhängen, in den Halbschlaf fallen oder ein Voll-Nickerchen machen. Öffne ich wieder die Augen, sehe ich vielleicht einen großen einsamen Baum mitten auf einem Feld. Beeindruckend, wie er seinen Platz behauptet! Im Nu ist er meinem Blick entschwunden. Es war ein kurzer Moment – aber schön!

Leider klappt so etwas nicht immer. Manchmal sitzt jemand in meiner Nähe, der mit Ohrstöpseln Musik hört. Der Klang der Bässe mischt sich wie ein ständiges Hacken in die Fahrtgeräusche. Das nervt. Zwei Möglichkeiten bleiben mir. Entweder ich finde mich damit ab und ertrage die Störung oder ich wechsele den Platz (und riskiere, dass beim nächsten Halt jemand einsteigt, der einen anderen Rhythmus in seine und meine Ohren drückt). 

Erregung als Normalzustand

Was ich gerade beschrieben habe, ist nur eine Facette der akustischen und optischen Reizüberflutungen heutzutage. Dazu kommen seelische Stressoren wie Schwierigkeiten in Partnerschaft und Familie, Belastungen am Arbeitsplatz, Spannungen in der Gesellschaft, Gefahren durch eine aus dem Gleichgewicht geratene Natur und die leidvollen Begleiterscheinungen der geopolitischen Machtspiele. Die Liste der Faktoren, die dazu beitragen können, dass Erregung der Normalzustand wird, ist lang, weshalb Entspannung und Stille seltene Ausnahmefälle bleiben.

Jetzt zu sagen, dass es ja an mir selbst liegt, wie weit ich mich dem „Grundrauschen“ im Außenbereich überlasse, ist einerseits schon richtig. Andererseits kann es auch einen zynischen Bei-
geschmack bekommen, weil mir diese Einstellung ja eine zusätzliche Last auferlegt, die ich als Einzelner nur schwer schultern kann. Wie sollen wir denn hinkriegen, innerlich ruhig und ausgeglichen zu bleiben, wenn unter uns „die Erde bebt“? Brauchen wir nicht wenigstens einige Beruhigungsverbündete, um bei den Abgrenzungsversuchen erfolgreich zu sein? Beim Ringen um Ruhe sind sie wie eine Rinde, die die Fasern der eigenen Bemühungen schützen und stärken. Gibt es Menschen in Ihrer Nähe, die auch die Stille lieben, dann werden Sie selbst leichter zur Ruhe kommen. 

So wird die Suche nach Ruhe und Stille zu etwas, das wie eine Ellipse zwei „Brennpunkte“ hat. Der eine wird
gebildet durch den Kontakt mit dem eigenen Wesenskern und den persönlichen Bedürfnissen. Der andere bezieht sich auf Menschen, mit denen wir uns umgeben haben und verbunden fühlen. Wenn beides einigermaßen in Ordnung geht, dann können wir uns auf das einlassen, was das Leben gerade an Positivem bietet.

Nur schauen und wahrnehmen

Im September 2016 war ich dienstlich drei Tage Gast im ehemaligen Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt. Dort hatte Martin Luther 1505 Einlass nach seinem erschütternden Gewittererlebnis gesucht. Dort hatte er sein Gelübde als Mönch abgelegt und schwere geistliche Kämpfe ausgefochten. Weil ich mich schon lange mit Martin Luther verbunden fühlte, wollte ich die Gelegenheit nutzen, ihm in den historischen Räumen nachzuspüren. Vom Gästehaus aus konnte man jederzeit den alten Kreuzgang betreten, wo es Bänke gibt, die zum Verweilen einladen. In der ersten Nacht stand ich schon vor dem Morgengrauen auf. Ich zog mich so warm wie möglich an und ging hinunter in den Kreuzgang. Ich setzte mich still auf eine Bank. Ich versuchte, alles Störende auszublenden. Ich wollte nur im Schauen und Wahrnehmen sein. Langsam wich die Nacht. Das Morgengrauen kam. Es wurde heller zwischen dem gotischen Maßwerk. Der Sandstein veränderte allmählich seine Tönung. In meinen Gliedern breitete sich Kälte aus. Aber mein Geist genoss es, dort zu sein, wo fünfhundert Jahre vorher Martin Luther gewesen war. In der zweiten Nacht setzte ich mich in den Chorraum der Klosterkirche. Direkt gegenüber von den wertvollen romanischen Buntglasfenstern. Ich erlebte, wie die Farben der schlanken, hohen Fenster langsam erwachten. Im zarten Morgenlicht wirkten sie sogar stärker als später in der hellen Sonne. So ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf und sammelte in der Stille unvergessliche Eindrücke.

In der Natur zur Ruhe kommen

Kürzlich merkte ich, dass ich unbedingt in die Natur wollte. Ich spürte in mir das Bedürfnis, für längere Zeit allein und ungestört vor mich hin zu gehen. Ich wollte auch eine Nacht im Wald verbringen. Also zog ich los – mit einem Rucksack auf dem Rücken. Meine Frau fand das gut. Nach einer stundenlangen Wanderung wurde ein abgelegener Teich schließlich mein Lagerplatz. Obwohl es in der Nacht sehr kalt wurde, sodass ich immer wieder aufwachte, war es schön, für einige Zeit in völliger Stille zu liegen. Ohne auf- und abklingendes Autorauschen oder Flugzeugbrummen. Bevor ich am nächsten Morgen weiterwanderte, nahm ich ein Bad im Teich. Danach hatte ich kalte Füße. Aber in mir war eine angenehme Ruhe. Diese Erfahrungen hatte ich selbst angebahnt. Ich hatte die Initiative ergriffen und war losgezogen. Ich hatte nicht gewartet, bis andere Menschen mir die gewünschten Erfahrungen verschafften. Meist sind wir selbst dafür verantwortlich, das anzubahnen, was wir brauchen. Manchmal ist das Trubel. Und manchmal brauchen wir Stille.

Stille, um zu hören

Auch in der Bibel ist Stillesein eine geschätzte spirituelle Fertigkeit: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn“ (Psalm 37,7) – „durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein“ (Jesaja 30,15). Jesus hat die Stille geliebt (Markus 1,35). Er hat sie wahrscheinlich auch als regelmäßige Praxis seinen Mitarbeitern empfohlen (Markus 6,31). Denn Stille ist wie eine Töpferscheibe, die sich um einen fest stehenden Mittelpunkt dreht. Während sich Brustkorb und Zwerchfell bewegen, der Atem in uns eintritt und austritt, bleibt unsere innere Aufmerksamkeit fixiert. Nehmen Sie sich doch auch ab und zu mal eine Viertelstunde Zeit. Setzen Sie sich entspannt auf einen Stuhl. Entlassen Sie alle „einfliegenden“ Gedanken und hören in sich hinein. In unserer damaligen Küche saß ich mal am Morgen allein eine ganze Weile in der Stille. Da hörte ich – ungefähr im Raum meines Herzens – so etwas wie eine Stimme, die „Andreas“ (meinen Vornamen) sagte. Das traf mich wie ein Schlag. Aber es war sehr angenehm. Ich hatte den Eindruck, dass sich bei mir eine höhere Wirklichkeit gemeldet hatte, die um mich weiß und die mich wohlwollend begleitet.

Im März 2017 nahm ich dann am Missionskongress „Dynamissio“ in Berlin teil. Im Rahmen dieser Großveranstaltung besuchte ich einen Workshop, bei dem ein ganz bestimmtes Modell kreativer Bibelarbeit vorgestellt wurde. Am Ende der gemeinsamen Besinnung auf eine Jesusgeschichte bekam jeder Teilnehmer eine Rose und ein ganz persönliches Bibelwort überreicht. Als ich meinen Text las, war ich hin und weg, weil ich sofort an jenen denkwürdigen Augenblick in unserer Küche erinnert wurde. Auf dem Zettel stand: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“.

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Autor: Andreas Erben

hat in den USA Beratungspsychologie studiert. Er ist verheiratet mit Uta Erben, einer Heilpraktikerin und Osteopathin. Er lebt und arbeitet in Gera/Thüringen.

Artikel-Bildnachweis: NickyLloyd – gettyimages.de