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Integrität: Ich bin mir selbst treu!
Da sage ich an einem Abend zu meinem Mann, dass ich die Schwangerschaftspfunde loswerden möchte, um mich wohler zu fühlen...

Und am nächsten Tag habe ich nach einem üppigen Mittagessen, bei dem ich mich überesse, so Lust auf Süßes, dass ich noch eine halbe Tafel Schokolade vernasche.
Kennen Sie das?
Rein objektiv betrachtet, entspricht in diesem Fall das Reden nicht dem Handeln. Das eine ist der ausgesprochene Wunsch, sozusagen die Absichtserklärung, und das andere ist die Wirklichkeit. Das eine sage ich, das andere tue ich – und da ist leider keine Übereinstimmung erkennbar. Klar, der eine oder andere Abnehm-Spezialist könnte jetzt sagen: Man darf sich nicht alles verbieten, das ist okay, solche Tage muss es auch hin und wieder geben. Es geht mir aber auch gar nicht um das Thema „Abnehmen“ – darüber sprechen andere gekonnter – sondern um das vorsichtige Herantasten an das große Thema der Integrität. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die wenigsten das Wort Integrität im Alltag verwenden. Oft weiß man gar nicht so genau, was damit eigentlich gemeint ist.
In diesem Artikel soll es um die persönliche Integrität gehen. Damit meint man die Übereinstimmung zwischen Werten, Reden und Handeln. Integrität ist das, was uns glaubwürdig macht. Persönliche Integrität wird definiert als die „fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln“, kurz: die Treue zu sich selbst. Im Alltag nennen wir das häufig „authentisch sein“. Das mag jetzt beim Wunsch abzunehmen und beim Essverhalten nicht sehr bedeutend (und nicht auf unser Wertesystem bezogen) sein, aber wenn wir dabei an weitere Beispiele denken, ist es immer das gleiche Prinzip:
- Ich schätze meine Arbeitskollegin Claudia … aber wenn meine anderen Kollegen schlecht über sie reden, dann bin ich dabei und mache mit.
- Ich würde nie etwas aus dem Supermarkt stehlen … aber sage bewusst nichts, wenn sich die Dame an der Kasse bei der Anzahl der Marmeladengläser zu meinen Gunsten verzählt.
- Freundlichkeit und Höflichkeit sind mir sehr wichtig … aber wenn mich ein anderer Autofahrer an einer Kreuzung übersieht, gestikuliere ich aufgebracht.
Da ist immer dieses ABER ... auf der einen Seite befinden sich mein Wunsch und mein Ideal und auf der anderen Seite steht mein Handeln, bei dem ich oft und im Moment gar nicht die Gelegenheit habe, es in Relation zu meinen Idealen zu sehen.
Ein aufwühlendes Experiment
Stanley Milgram hat 1961 ein Experiment durchgeführt, bei dem er untersuchen wollte, ob der blinde Gehorsam der Deutschen während des Nationalsozialismus sozialpsychologisch erklärt werden kann. In seinem Experiment sollten die Versuchspersonen einem „Schüler“ (einem eingeweihten Schauspieler) Fragen stellen und diesen bei falschen Antworten mit Elektroschocks bestrafen. Die Intensität des Schlages sollte nach jedem Fehler erhöht werden, wobei in Wirklichkeit keine Elektroschocks abgegeben wurden, was die Versuchspersonen jedoch nicht wussten.
Von den 40 Personen gingen 26 bis zur maximalen Spannung von 450 Volt, und nur 14 brachen das Experiment vorher ab, weil sie sich weigerten, dem „Schüler“ weitere Elektroschocks zuzufügen. Die 14 Personen wollten dem Schüler, „nur“ weil der Versuchsleiter es forderte, keine Schmerzen mehr bereiten.
Und was war mit den anderen 26? Waren das alles brutale Menschen, die nur darauf gewartet hatten, jemandem wehzutun – und das aus Überzeugung? Ganz im Gegenteil! Es waren Menschen wie Sie und ich, die in einer Situation gefangen waren, in der sie sich nicht trauten, Widerspruch zu leisten und entsprechend ihrer eigenen Überzeugung zu handeln. Natürlich wurden der ganze Ablauf und die Durchführung psychologisch sehr clever gestaltet, sodass bei den Teilnehmern ein immenser Druck aufgebaut wurde und eine sehr komplexe Situation entstand. Aber ist es nicht so, dass sich in unserem Leben auch oft sehr schwierige Umstände ergeben?
Das Experiment wurde viel kritisiert, besonders in ethischer Hinsicht, da die 40 Personen teils für ihr Leben traumatisiert waren. Traumatisiert weshalb? Weil sie am eigenen Leib erleben mussten, dass sie, als eigentlich friedfertige, freundliche und liebevolle Menschen, ganz entgegen ihren Werten und unter gewissen Umständen zu Menschen werden konnten, die fähig waren, andere zu quälen.
Integrität, Loyalität und Korruption
Aufwühlende Situationen begegnen uns auch im echten Leben. Da lebt man so vor sich hin und plötzlich steckt man in einer Lebenslage, in der man sich entscheiden muss, ob man zu seinen Werten steht – und das um jeden Preis. Da geht es gegebenenfalls um die Loyalität dem Vorgesetzten gegenüber oder um die Aussicht auf viel Geld. Da gibt es das Risiko, andere zu enttäuschen oder sogar zu verärgern.
Skandale zeichnen sich häufig dadurch aus, dass Geschäftsleute, Manager und Politiker mit ihrer Integrität Probleme bekommen. Wer korrupt handelt, kann nicht als integer bezeichnet werden; Integrität und Korruption stehen im Gegensatz zueinander. Loyalität und Integrität hingegen sind keine Gegensätze, können aber unter Umständen in Konflikt miteinander geraten. Hierbei ist entscheidend, was höher gewichtet wird. Man könnte sich zum Beispiel nach folgender Maxime entscheiden: „Ich bin loyal, aber nur so lange, wie ich auch integer sein kann.“ Ansonsten könnte es passieren, dass man der Wahrheit untreu wird, um loyal zu bleiben – z. B. dem Vorgesetzten gegenüber. Dabei muss man sich bewusst machen, dass man seine Vertrauenswürdigkeit in dem Moment verliert, in dem man seine Integrität aufgibt.
Ich wäre gern mutig …
Zur Geburt unseres Sohnes vor einiger Zeit haben wir liebevolle Glückwunschkarten erhalten. Auf einer von ihnen war folgender Wunsch zu lesen: «Wir wünschen dir Mut auf deinem Weg, Mut zum Hören und zum Stillwerden, damit du dir treu bist, wenn du sprichst und wenn du handelst.» Bingo! Genau das ist es, dachte ich mir. Das ist Integrität, das ist Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit. Es ist all das Positive, das wir an Menschen schätzen, und es sind jene guten Eigenschaften, mit denen sich jeder gerne beschrieben wüsste.
Bei anderen fällt uns ein Mangel an Integrität schnell auf. Wie steht es aber um uns selbst? In unserer schnelllebigen Welt braucht es tatsächlich Mut, still zu werden und still zu bleiben. Sich Zeit zum Nachdenken zu gönnen. Nicht über andere und über die Arbeit, sondern über sich selbst. Wo stehe ich? Welche Werte habe ich und hätte ich gerne? Welche Werte bestimmen mein Leben? Bin ich mir selbst treu? Stimmt mein Reden mit meinen Einstellungen, Idealen und meinem Handeln überein?
… meiner Werte bewusst …
Wenn wir darüber nachdenken, welche Werte uns wichtig sind, können wir damit beginnen, zu beobachten und zu analysieren, welche Verhaltensweisen wir bei anderen schätzen und auf welchen Werten und Prinzipien diese beruhen. Oft kann man durch Vorbilder herausfinden, was einem selbst wichtig ist. Auch wenn man darüber nachdenkt, was man den Kindern (unabhängig davon, ob man welche hat oder nicht) durch die Erziehung auf ihren Lebensweg mitgeben will. Das gibt Aufschluss darüber, auf welche Ideale wir Wert legen. Unser Wertesystem kann auf mehreren Beinen stehen: Politisch, humanistisch oder religiös begründete Haltungen fließen darin ein. In unserer christlich geprägten Kultur vermitteln die biblischen Zehn Gebote eine klare Orientierung. Sie geben Verhaltensgrundsätze vor wie die Wahrheitsliebe, die Rücksicht auf das Eigentum anderer und den gesunden Respekt vor älteren Menschen. Auch die so bekannte „goldene Regel“ : „“Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“, findet sich in der Bibel.
… und integer!
Wenn wir uns unserer Ideale bewusst sind, gilt es, Unstimmigkeiten mit unserem Handeln zu entdecken und zu beseitigen. Dabei hat wohl jeder seine eigenen kleinen und großen Baustellen … Integrität steigert unsere Glaubwürdigkeit und unsere Zufriedenheit, damit wir am Abend in den Spiegel schauen können, im Bewusstsein, uns selbst treu gewesen zu sein.
Mit einem Augenzwinkern zusammengefasst kann das für mich bedeuten, dass ich mir einen gesunden Plan zum Abnehmen zurechtlege und nicht nur davon rede, abnehmen zu wollen. Deshalb werde ich jetzt diesen Artikel beenden und zur Tat schreiten.
Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Freude und wahre Erfüllung beim Entdecken von Werten. Leben Sie integer!
- Integrität: Ich bin mir selbst treu!Audio-Datei zum Anhören dieses Artikels.

Autor: Judith Leitner
Psychologie BSc und in Ausbildung zum Dipl. Lebens- und Sozialberater, glücklich verheiratete und mit zwei Kindern gesegnete Mama
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