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Kolumne
Die Wahl der Mittel
Mein rechter Mittelfinger ist seit etwas mehr als zwei Wochen dick verbunden und zusätzlich mit einer Fingerschiene versehen.
Dem wirklich überflüssigen Umstand, sich den Finger eingeklemmt und den Nagel aufgerissen zu haben, verdanke ich nun, gelegentlich beglückwünscht zu werden, jetzt mal ganz ungeniert diesen Finger präsentieren zu dürfen. Und mir fielen da ein paar Situationen ein, in denen ich das fast reflexartig tue. Da gibt es beispielsweise dieses leidige „Der echte Norden“-Schild, das den Übertritt in das Bundesland Schleswig-Holstein kennzeichnet. Als gebürtige Mecklenburgerin kann ich nicht anders, als mich jedesmal aufs Neue darüber aufzuregen, was um alles in der Welt …!?! Und vielleicht kennst du das Gefühl, jemandem gegenüber, der dich tief verletzt oder stark verärgert hat, folgenden Satz äußern zu wollen: „Nein, leider kann ich dir zur Begrüßung nicht die Hand geben, ich hab da was am rechten Mittelfinger. Schau mal.“
Das richtige Maß
Ja, es geht wahnsinnig schnell, sich über – der eigenen Meinung nach – unmögliche Menschen, Gegenstände oder Situationen zu echauffieren – und dabei das richtige Maß aus den Augen zu verlieren. Die Stimme wird lauter, der Ton schärfer und die Worte expliziter. Und wenn man sich Gewaltstatistiken anschaut, wird dabei nicht selten die Grenze zwischen verbal und nonverbal überschritten –
es beginnt vielleicht mit dem Mittelfinger und endet…
Da ich ein gewisses Temperament, sprich Aggressionspotenzial in mir trage, ist mir der verwundete Mittelfinger eher Mahnung, weil er mir das Gefahrenpotenzial deutlich vor Augen führt. Ist es mir die flüchtige Genugtuung, den kurzen Adre-
nalinschub wert?
Auch wenn erschreckend viele Reaktionen und Prozesse unseres Körpers unbewusst ablaufen: wir wurden Gott sei Dank mit einer Spur Ratio ausgestattet, die uns hier in die Pflicht nimmt. Denn auf so Manches habe ich sehr wohl Einfluss und kann entscheiden, ob ich den Eskalationskurs oder doch den Pfad der friedlichen Koexistenz einschlage. Frohes Auseinandersetzen also bei der Wahl der richtigen Mittel.
- Hope Magazin September - November 2024Das aktuelle Magazin
Autor: Nicole Spöhr
findet es immer wieder spannend zu sehen, was für gegensätzliche Eigenschaften Menschen so in sich tragen.
Artikel-Bildnachweis: Albert Gruber