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01.12.2022

Kränkungen entmachten

Wie ein Heilungsprozess möglich wird

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„Au“, das hat weh getan. Diese Aussage hinterließ verletzende Spuren. Die Stimmung ist plötzlich gereizt, der Aggressionspegel hoch. Es sind nicht nur Worte, sondern auch deren Klang, Mimik und Gesten, verächtliche Blicke oder auch das Übersehen und wie Luft behandelt werden, die uns entwerten, verletzen, demütigen und entsprechende Reaktionen auslösen. 

KRÄNKUNG, eine GROSSMACHT  

Deshalb schreibe ich KRÄNKUNG groß. Sie ist eine GROSSMACHT. Da sie jedem im Laufe seines Lebens begegnet, dürfen wir nicht einfach wegschauen und so tun, als pralle alles von uns ab. Wer lernt, mit Kränkungen so umzugehen, dass diese nicht unsere weiteren Lebensentscheidungen und unser Miteinander negativ beeinflussen, tut sich und seinem Umfeld nur Gutes. Kränkungen trüben die Lebensfreude, lassen kräftezehrende Verbitterung zurück und bestimmen nur allzu leicht – lautstark oder auch schmerzhaft schweigsam – unsere Beziehungen. Außerdem höhlen sie unser Selbstwertgefühl aus. Je nach Stärke der Kränkung und unserer Fähig- oder Unfähigkeit, darauf zu reagieren, kann ein persönliches „Erdbeben“ ausgelöst werden. Eine Kränkung ist wie ein Schlag ins Gesicht, der uns seelisch tiefen Schmerz zufügt. Geschieht dieser seelische Schlagabtausch vor anderen – sei es am Arbeitsplatz, in der Familie, unter Freunden – dann ist die Auswirkung entsprechend verstärkt. Dabei gilt: Je näher wir der Person, die uns kränkt, stehen, desto bedeutender und umfassender ist die Wirkung. 

Mit Kränkungen umgehen, 1  

Es liegt an uns, gekränkten Menschen in unserem Lebensumfeld ermutigende Begleitung anzubieten und damit eine Gegenkultur zur weitverbreiteten Geringschätzung, Oberflächlichkeit und Entwertung zu leben. Ein tiefgründiger Gedanke aus der Bibel hat mir thematisch die Augen geöffnet, wenn dieser es so formuliert: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem!“ (Römer 12,21). Viktor Frankl hat in schwersten menschlichen Nöten und Kränkungen im Konzentrationslager die unglaubliche Aussage getroffen und danach gelebt: „Es gibt etwas, was ihr mir nicht nehmen könnt: Meine Freiheit, wie ich auf das, was ihr mir antut, reagiere … Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ 

Von Müll und Enttäuschung verschüttet!?

Kränkungen beeinflussen unser Leben nachhaltig und entwickeln im Untergrund schleichend ihre nagende und hartnäckige Wirkung. Im emotionalen Gedächtnis belegen Beleidigungen Spitzenplätze und werden zu einer köchelnden Basis eines gärenden Verbitterungsprozesses. Somit bleibt die Kränkung stets gegenwärtig. Wer sich darauf einlässt, erlebt den erlittenen Schmerz immer wieder neu und aktuell. 

Durch die Empfindung des Ausgeliefertseins bleiben die Emotionen verletzt und die Lebensmelodie wird zu einer Tonfolge düsterer Moll-Akkorde. Die damit einhergehende trübe Stimmung, die unser soziales Umfeld wahrnimmt und sich in Folge zurückzieht, führt dazu, dass sich der Gekränkte allein gelassen und unverstanden wähnt und die Schuld dafür immer der erlittenen Kränkung zuschiebt. 

Während die Verbitterung innerlich aufwühlt, wächst äußerlich ein starrer Panzer. Das Denken konzentriert sich auf das erlittene Unrecht. Der innere Friede hat sich verabschiedet, Loslassen und Vergebungsbereitschaft sind vom Müll aus Enttäuschung und Selbstmitleid zugedeckt. „Die Verbitterung ist eine Mischung aus Aggressivität und Resignation, aus Rachegefühl und Selbstzerstörung“, schreibt Dr. Michael Linden. Die ganzheitliche Wirkung berührt neben der Psyche auch den körperlichen Aspekt. Da Verbitterung eine chronische Stressreaktion hervorruft, sind Auswirkungen z. B. auf Blutdruck, Stoffwechsel, Hormonhaushalt und Muskeln die Folgen. 

mit Kränkungen umgehen, 2

Angeregt durch die Aussage von Viktor Frankl: „Gib nicht anderen die Schuld für dein Unglück. Übernimm für dein Glück selbst die Verantwortung! Menschliches Verhalten wird nicht von Bedingungen diktiert, die der Mensch antrifft, sondern von Entscheidungen, die er selbst trifft“, können wir uns der herausfordernden Frage stellen, ob wir aus den Tiefen der Kränkungsmuster dennoch auch etwas für uns selbst und für unser Miteinander lernen können. Da uns eine Kränkung nur dann trifft, wenn sie einen sogenannten bewussten oder unbewussten wunden oder wertvollen Punkt unseres Lebens berührt, können wir uns dadurch zu einer bewussten gedanklichen Vertiefung anregen lassen. Muss ich etwas anschauen und aufarbeiten“, das ich bisher verdrängt habe? Was ist mir so wichtig und wertvoll, dass ich bereit bin, dafür mit Selbstachtung einzustehen? Wofür bin ich bereit, einzustecken, ohne mich zu beugen? 

mit Kränkungen umgehen, 3

Reinhard Haller hat in seinem Buch Die Macht der Kränkung acht hilfreiche Schritte im Bereich der Einstellung, der Reflexion und der Wertung bezüglich Kränkung und Kränkbarkeit aufgezeichnet, um diese konstruktiv zu bewältigen. 

1. Schritt: Lufthoheit über das Kränkungsgeschehen übernehmen 

Allein der Gekränkte kann festlegen, welche Bedeutung der Absender in seinen sozialen Beziehungen hat und ob er der Kränkungsbotschaft überhaupt die Chance gibt, sich bei ihm anzudocken. Die bösartigste Beleidigung und die hinterhältigste Entwertung verlieren jegliche Sprengkraft, wenn sie der Empfänger relativiert, neutralisiert oder ihnen keine Bedeutung beimisst. 

2. Schritt: Transparenz schaffen (ansprechen) 

Die Transparenz beginnt dort, wo die Kränkung angesprochen und der Kränkende (Sender) damit konfrontiert wird. 

3. Schritt: Kränkungsbotschaft analysieren 

Oft gelingt eine nüchterne Analyse besser, wenn man das, was einen kränkt, mit sich selbst in einem inneren Dialog bespricht oder aufschreibt. Noch wirksamer ist die Erörterung mit einer außenstehenden neutralen Person.

4. Schritt: In die Haut des Kränkenden schlüpfen 

Um die „Lufthoheit“ im Kränkungsgeschehen zu übernehmen, kann es hilfreich sein, in die Haut des Kränkenden zu schlüpfen. Nur wenn ich mich in ihn hineinfühle, also empathisch bin, werde ich einen Zugang zu seinen möglichen Beweggründen finden. 

5. Schritt: Eigene Kränkungsmuster überdenken und durchbrechen 

Instinktiv reagieren wir auf Kränkungen mit zum Teil generell verbreiteten Mustern wie Schweigen, Zorn, Wut oder Rachegefühlen. Dies bedeutet, dass wir uns in unserer Selbstbestimmung einengen lassen und auf Alternativen verzichten. 

6. Schritt: Loslassen 

Das zwanghafte und manchmal nahezu süchtige Denken an die Vergangenheit bedeutet Bindung, ja Fesselung, jedenfalls fehlende Freiheit und Souveränität. 

7. Schritt: Perspektivenwechsel 

Der wirksamste Perspektivenwechsel liegt im emotionalen Bereich. Gelingt es, eine andere psychische Gestimmtheit einzunehmen als im ersten Kränkungsschock, gewinnt man an Distanz, Sicherheit und Gelassenheit. 

8. Schritt: Verzeihen 

Die reifste, edelste, aber auch am schwersten erreichbare Form des Umgangs mit Kränkungen ist die Vergebung. Solange wir unversöhnlich sind, bleiben wir gefangen und geben den Verletzenden Macht über uns, ein Zuviel an Bedeutung und Einfluss. Wir halten uns selbst in der Opferrolle gefangen, in die uns andere durch die Kränkung gebracht haben. 

Kränkungen begegnen uns in unserem Leben immer wieder. Wir können uns ihnen nicht entziehen, aber wir können lernen, Kränkungen zu entmachten. Niemals sollten wir ihnen im Alltag die Vorherrschaft überlassen, sondern uns ganz im Gegenteil sagen: Einen Heilungsprozess in Gang zu setzen, ist möglich.

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Autor: Günther Maurer

Seelsorger und NewstartPlus-Gesundheitsberater