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Mensch braucht Mensch
Auf ein Leben in vielfältigen Beziehungen angelegt
Mein Mann behauptet, dass ich ein melancholischer Mensch sei. Ich widerspreche, aber ein bisschen hat er wohl Recht. Mir fallen Übergänge im Leben nicht so leicht, obwohl ich sie mag und auch brauche. Ich denke dann oft zurück, wie schön etwas war oder wie gut wir es hatten. Ich hänge zum Beispiel immer noch an Darmstadt Eberstadt - und dort sind wir vor zwei Jahren weggezogen! Mir fehlen die zwei süßen Cafés, die Streuobstwiesen und die weltbeste Kindergarten-Erzieherin (dass wir diese sowieso nicht für immer hätten, ist ein anderes Thema und spielt für meine Melancholie keine Rolle).
Aber etwas anderes macht mir noch zu schaffen: Ich denke an unsere Nachbarin Frau L., der wir regelmäßig den Flaschenkasten aus dem Keller hochtrugen. An unsere Hausgemeinschaft, mit der wir einmal im Jahr Sommerfest feierten. An meinen Kollegen, der im gleichen Viertel wohnte. An die Bekannten, die ich nach Babykursen und Kinderturnen ab und zu beim Einkaufen in Eberstadt traf. Die Worte, die man dann wechselt, sind nicht weltbewegend, aber sie beheimaten einen und geben das Gefühl von „Hier gehöre ich dazu“. All diese Kontakte muss man sich an einem neuen Ort neu aufbauen, auch wenn man nur 20 Kilometer weit weg gezogen ist. In meinem Alltag sind diese Menschen nicht mehr existent. Natürlich sind sie nicht meine engsten Freunde oder Verwandten, und doch haben sie mein Leben bereichert.
Wie viele Kontakte braucht ein Mensch?
Wenn du die Augen schließt und an die Menschen denkst, die du als Freundinnen oder Freunde bezeichnen würdest, wie viele kommen dir da in den Sinn?
Robin Dunbar, ein britischer Anthropologe fand in den 1990er-Jahren heraus, dass das Netz menschlicher Beziehungen einem bestimmten Muster folgt und maximal 150 Personen umfasst. Diese ging als "Dunbar-Zahl“ in die Wissenschaftsgeschichte ein und schlüsselt sich so auf:
• Etwa 10 bis 15 Menschen würden die meisten ihre Freunde nennen. Auf sie können wir in allen Lebenslagen zählen. Die Besetzung ändert sich im Laufe der Jahre, die Zahl bleibt aber überraschend stabil.
- Drei bis fünf davon sind unsere engsten Vertrauten: diejenigen, mit denen wir mindestens einmal die Woche Kontakt haben und denen wir unsere Sorgen und Geheimnisse anvertrauen – etwa der beste Freund oder die Schwester.
- Der Kreis der guten Bekannten, die wir etwa zu einem runden Geburtstag einladen würden, beläuft sich auf rund 50.
- Mit insgesamt 150 Menschen haben wir irgendeine soziale Beziehung, die auf Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung fußt – darunter Nachbarn und Kollegen.
- Alle anderen Kontakte ähneln eher lockeren Bekanntschaften und sind mit keinerlei Verpflichtungen verbunden, außer dass man sich vielleicht auf der Straße grüßt. (Quelle: https://www.quarks.de/gesellschaft/darum-haben-nicht-alle-menschen-in-deinem-leben-platz/; Zugriff am 20.9.2023)
Diese Zahl ist ein Durchschnittswert, es gibt individuelle Unterschiede. Auch Persönlichkeitsmerkmale wie Intro- oder Extrovertriertheit spielen eine Rolle. Kein Wunder, dass ich meine alten Nachbarn vermisse, sie waren ein fester Bestandteil meines Beziehungsnetzwerkes. Natürlich gibt es am neuen Ort auch nette Nachbarn und Kindergarten-Bekanntschaften, aber diese Kontakte aufzubauen braucht Zeit und innere Ressourcen.
Freundschaften wachsen
Oftmals muss man das Alte bewusst loslassen, um Platz für Neues zu schaffen. Diese Übergangszeiten nennt Heike Nagel, systemische Familientherapeutin, „die neutrale Zone“. (Heike Nagel: Übergangsweise. SCM Verlag, 2022.)
Wenn etwas zu Ende geht, beginnt etwas Neues – und während dieser Transition gibt es einen leeren Raum, der neu gefüllt werden will. In diesem Fall mit neuen Bekanntschaften, Freunden und Gesprächen überm Gartenzaun. Die neutrale Zone fordert uns heraus, diesen Leerraum auszuhalten und sie braucht Zeit. Freundschaften kann man nicht machen, sie müssen wachsen. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn du daran ziehst.“
Beziehungspflege kostet Zeit
Apropos Zeit: Wer Beziehungen pflegen möchte, braucht Zeit. Es ist eine bewusste Entscheidung, ob ich mir die Zeit nehmen möchte, mit meiner Nachbarin zu plaudern. Es ist ein zeitliches Invest, alle zwei Wochen mit meiner besten Freundin zu telefonieren. Je nach Lebensphase kann der Alltag ganz schön vollgepackt sein mit sehr vielen Dingen, so dass für das Zwischenmenschliche nicht mehr wirklich viel Zeit bleibt. Man könnte meinen: dann helfen Soziale Medien, denn darüber kann ich gleichzeitig mit vielen meiner Freunde und Bekannten in Kontakt bleiben.
Fakt(or) Soziale Medien
Dass soziale Medien unsere Kontakte prägen, ist ein neuer Fakt(or) in der Beziehungsforschung. Via Facebook, Instagram & Co. können wir leichter Kontakt zu alten Schulfreunden halten, ausgewanderte Bekannte auf den neuesten Stand bringen und so unser soziales Netz insgesamt ausweiten. Dunbar selbst hat seine Zahl auf 180 Kontakte erweitert und nennt als Grund die Sozialen Medien. Dennoch „besteht ein wertvolles Netzwerk auch aus realen Menschen“, so Harriet Dohmeyer, Expertin und Beraterin für digitale Kommunikation.
Auch ich habe Freunde aus meiner Zeit des Auslandsstudiums in Schweden, die in Europa verstreut wohnen. Mit ihnen habe ich mehrmals im Jahr Kontakt, per WhatsApp oder Videotelefonie. Dennoch ist es etwas anderes, wenn wir uns besuchen und gemeinsam essen und reden können. Eine persönliche, direkte Begegnung ist durch nichts zu ersetzen. Deshalb versuchen wir uns mindestens einmal im Jahr zu sehen – das klappt auch noch mit Familienanhang erstaunlich gut und füllt meinen Freundschafts-Tank regelmäßig auf.
Leben ist Begegnung
Was nun, wenn jemand sagt: „Ich brauche keine Menschen um mich herum. Ich bin am liebsten allein.“? Wenn Menschen enttäuscht oder missachtet wurden, ist das vielleicht ein logischer Schluss. Wer verletzt wurde, will sich schützen. Und dennoch lässt man eine wichtige Lebensressource brachliegen: Lebendige, stärkende Beziehungen. Der Mensch ist grundlegend auf ein Leben in vielfältigen Beziehungen angelegt. (Jörg Bartel: Vielfältige Beziehungsformen in biblischer Perspektive. https://unipub.uni-graz.at/oekf/content/titleinfo/2165256/full.pdf; Zugriff am 7.10.2023)
Gott ist, christlich gedacht als Vater, Sohn und Heiliger Geist, von sich aus ein Beziehungswesen. Und auch der Mensch ist konzipiert, ein Beziehungswesen zu sein. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, sagt Philosoph Martin Buber. Der Mensch braucht andere Menschen, um Mensch sein zu können. Ist er alleine, verkümmert er. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“
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Ein Service der Hope Hörbücherei.
Autor: Anja Wildemann
ist Freundin & Nachbarin, Frau von Manuel, Redakteurin bei Hope TV, Moderatorin von „Beziehungskiste“ und Mama von zwei Töchtern. Wenn sie mit Freunden & Familie zusammen ist, wird ihr Herz voll.
Artikel-Bildnachweis: alvarez – gettyimages.de