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01.12.2024

Trotz Krisen nicht verzweifeln

Spielball des Schicksals oder von Gott geliebt und geführt?

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Dieses Volk hatte immer wieder mit Krisen zu kämpfen. Eine Hungersnot trieb es nach Ägypten, wo es viele gute Jahre erlebte. Doch dann wurde es über vierhundert Jahre lang versklavt und entrechtet. Die Befreiung aus der Sklaverei prägte seine Kultur und Religion mehr als alles andere. Sie wurde zur Grundlage seiner Identität und seines Verständnisses von Freiheit und Gerechtigkeit.

Dann wurde ein Teil des Volkes von den Assyrern verschleppt. Jahre später folgte der Rest des Volkes ins babylonische Exil. Seine Städte und Dörfer lagen in Trümmern. Die Rückkehr in die alte Heimat siebzig Jahre später wurde zum Symbol für die Wiederherstellung des Volkes und seines Glaubens. Diese Krise legte den Grundstein für die Entwicklung seiner Kultur, seiner Traditionen und seiner Identität bis zum heutigen Tag. 

Dann kamen die Römer und unterdrückten das freiheitsliebende Volk erneut. Sie zerstörten seine Hauptstadt und seinen Tempel und vertrieben es schließlich für zweitausend Jahre aus seiner Heimat. In dieser Zeit wurden es immer wieder verfolgt, geschlagen, gedemütigt und zu Tode geprügelt. Nachdem es endlich in seine alte Heimat zurückkehren durfte, ist dieses Volk bis heute immer wieder von Krieg und Terror bedroht. Frieden scheint für sie in weiter Ferne. – Die Juden.

Angesichts dieser Geschichte von Krisen und Not wäre es nur allzu verständlich, dass die Angehörigen dieses Volkes von Ängsten, Traumata und Depressionen geplagt werden. Aber dem ist nicht so. Neben Freiheit und Gerechtigkeit, neben dem Wunsch nach Frieden und Sicherheit ist die Freude am Leben ein Kennzeichen des jüdischen Glaubens. Das hat ihm geholfen, trotz aller Krisen mit Hoffnung und Optimismus in die Zukunft zu schauen.

Es geht uns nicht anders

Nun hat jede Gesellschaft und jedes Volk hat seine Krisen. Die aktuelle globale Krise beispielsweise hat viele Menschen in unserem Land verunsichert und verängstigt. Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und der Pandemie auf die Gesundheit, die Wirtschaft und das soziale Leben sind spürbar.

Es müssen aber nicht immer Krieg, Not und Katastrophen sein. In einer stark leistungs- und erfolgsorientierten Gesellschaft leiden manche Menschen unter dem Druck, ständig erfolgreich sein und allen Erwartungen gerecht werden zu müssen. Trotz Wohlstand und allgegenwärtiger sozialer Medien fühlen sich andere einsam und isoliert. Hinzu kommt, dass viele unter Arbeitsplatzunsicherheit leiden oder sich Sorgen machen, weil sie sich finanziell übernommen haben. Und weil es immer noch viele Vorurteile gegenüber psychischen Problemen gibt, trauen sich viele Menschen nicht, über ihre Probleme zu sprechen und suchen keine professionelle Hilfe. So wird ihr Leben zur Dauerkrise.

Krisen sind ein normaler Bestandteil des Lebens. Ob persönliche Krisen wie der Verlust eines geliebten Menschen oder globale Krisen – Krisen gehören zum Leben. Sie können uns herausfordern, verändern und wachsen lassen.

Wendepunkt und Chance?

Das Wort „Krise“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich „Beurteilung, Entscheidung“, aber auch „Wendepunkt“. In der Philosophie bedeutet es auch „Gefahr“ und „Chance“. Ob jemand an einer Krise zerbricht oder an ihr wächst, ob er sich durch sie bedroht fühlt oder sie als Chance begreift, ob sie zu einem Wendepunkt in seinem Leben wird, liegt offenbar an jedem selbst.

Die Juden haben den Mut nicht verloren, sondern hoffnungsvoll nach vorne geschaut. Deshalb sind sie aus ihren Krisen gestärkt hervorgegangen. Was ist ihr Geheimnis? Sie waren überzeugt, von Gott geschaffen und geführt zu sein. Auch wenn Tod und Leid ihr Leben bedrohten, fühlten sie sich in Gott geborgen, denn das ist nicht alles. Es gibt für sie eine Auferstehung zu einem neuen Leben, in dem alles Unglück und Elend dieser Welt keine Rolle mehr spielen wird. Das gibt ihnen die Kraft, nach jeder Krise neu anzufangen.

Diese Hoffnung haben Christen und Juden gemeinsam. Doch seit die meisten Menschen in unserer Gesellschaft den christlichen Glauben aufgegeben haben, bleibt ihnen nur dieses eine, kurze Leben. Mehr gibt es für sie nicht. So können sie nur auf die Zeichen schauen, ob wir nicht langsam aus der gegenwärtigen Krise herauskommen: Die wirtschaftliche Lage ist zwar noch schwach und der Krieg in der Ukraine beeinflusst auch unser Leben. Aber es besteht die Hoffnung, dass wir in naher Zukunft zu einer gewissen Normalität zurückkehren können. – Doch wenn nicht?

Ob wir gestärkt aus der Krise hervorgehen, hängt also auch davon ab, wie wir die Welt sehen: Zufallsprodukt oder Geschöpf Gottes? Spielball des Schicksals oder von Gott geliebt und geführt? Sterben ohne einen Lichtblick oder Hoffnung auf ein Leben ohne Leid und Tod? Ob wir uns das Leben in der Krise nur schönreden, oder ob wir es optimistisch und hoffnungsvoll angehen, weil die Zukunft uns gehört, ist letztlich eine Frage des Glaubens. So kann eine Krise zu einem Wendepunkt in unserem Leben werden, zu einer Chance, neu anzufangen.

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Autor: Siegfried Wittwer

Pastor i. R., ehem. Leiter des Internationalen Bibelstudien-Instituts

Artikel-Bildnachweis: shaunl – gettyimages.de