Artikel aus dem Hope Magazin

08.10.2025

BINDUNG macht uns ...

... glücklich - oder doch Angst?

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Max

„Vielleicht bin ich einfach beziehungsunfähig.“ Max hatte auf einem Hügel geparkt, und ließ die Augen resigniert über die Landschaft schweifen. Am Horizont leuchtete die kleine Kapelle im Abendlicht, in der Alessja ihre Hochzeit hatte feiern wollen. Unglaublich, wie fremd er sich dieser Frau jetzt fühlte. Dabei war er so fasziniert von ihr gewesen.

Ja, es hatte so romantisch und hoffnungsvoll begonnen! Max hatte mit Hingabe um Alessja geworben; sie hatte ihm versichert, dass er der Richtige war. Und dann, irgendwann, während sie im IKEA die ersten gemeinsamen Möbel aussuchten, hatte er diesen Druck auf dem Kehlkopf gespürt. So als fehlte ihm die Luft zum Atmen. Dieses Gefühl war Max nicht unbekannt. Es hatte ihn schon damals mit Irene beschlichen. Und mit Conny.

Warum kam ihm immer die alarmierende Erkenntnis, dass er dabei war, sich zu verlieren, sobald eine Verbindung ernst wurde? Warum konnte er nur entweder in einer engen Beziehung oder er selbst sein?

Mia

Mias Ehemann lebte seine Fluchttendenzen auf andere Weise aus. Äußerlich war er seit 26 Jahren verheiratet, innerlich aber hatte er sich schon lange zurückgezogen. Er lebte für seine Firma, ließ sich nur selten zu gemeinsamen Unternehmungen überreden, sprach nie über persönliche Dinge. Ja, er stritt nicht einmal mit seiner Frau.

Mia, die von einer dynamischen Zukunft geträumt hatte, war mittlerweile an das Nebeneinander gewöhnt. Nun sorgte sie brav für ihren Mann, hielt ihm den Rücken frei, ließ ihm seine Ruhe und sie vermied Spannungen. Ihre Sehnsucht nach Nähe hatte sie längst begraben.

Warum ertrug sie diese Kälte, ohne ihre Enttäuschung zu kommunizieren? Warum konnte sie sich selbst ohne ihn gar nicht mehr denken?

Angst

Es ist schockierend, zu erkennen: Beziehungen sollen eigentlich unser Lebensglück begründen – in Wirklichkeit machen sie uns aber auch gehörig Angst. Manchen von uns raubt das Empfinden von zu viel Nähe und Verpflichtung die Kontrolle über das Leben. Andere schickt die Möglichkeit, abgelehnt zu werden, in ein pausenloses sich Anpassen und sich zur Verfügung stellen. Wir alle haben Verhaltensweisen entwickelt, die, wenn wir genauer hinsehen, nicht von Liebe, sondern von Furcht angetrieben sind. Und wir leben sie aus, ob verheiratet oder nicht!

In der Abteilung einer Firma, in der Trainingsmannschaft, im Freundeskreis oder in der Familie – Bindungen entstehen überall. Und überall lösen sie unsere typischen Muster aus: Die Teamleiterin kontrolliert ihre Kollegen, weil sie Angst hat, dass ihr Vertrauen ausgenutzt wird. Die Freundin geht im Urlaub nie Kompromisse ein, weil sie Angst hat, fremdbestimmt zu werden. Der Sportkamerad macht immer beißende Witze, weil er niemanden an seine wahren Gefühle heranlassen möchte.

Die Mutter muss dafür sorgen, dass es allen gut geht, weil sie sich sonst unnütz und unwichtig fühlt. Der Freund redet hinter dem Rücken über Probleme, die er sich nicht offen ansprechen traut, weil er Angst hat, abgelehnt zu werden …

Ideal

Gibt es denn überhaupt Beziehungen oder Freundschaften, die frei von solchen Angststrukturen sind und uns ausschließlich glücklich machen? Wie würde das denn aussehen?

Die Fachleute sprechen hier von einem Gleichgewicht zwischen Verbindung und Abgrenzung. Beide Partner sind in der Lage, sich zu VERBINDEN – sie können sich in das Gegenüber einfühlen, seine Schwächen akzeptieren, seine Bedürfnisse ernstnehmen, Kompromisse eingehen, und vertrauen. All das aber nicht ausschließlich und nicht maßlos – sonst würden sie sich selbst verlieren und in eine Abhängigkeit geraten.

Beide müssen deshalb gleichzeitig in der Lage sein, sich ABZUGRENZEN – sie sind auf gesunde Weise mit sich selbst verbunden, bleiben authentisch, äußern ihre Bedürfnisse, treffen eigenständig Entscheidungen und behalten die Kontrolle über ihr Leben. Dennoch lassen sie sich immer wieder bewusst auf ihr Gegenüber ein – sonst würde die Bindung verlorengehen.

Stellen Sie sich eine Beziehung vor, wo sich beide jederzeit selbstbewusst verbinden und liebevoll abgrenzen können. Das wäre fantastisch!

Die gute Nachricht

Solange Sie am Leben sind, ist noch nicht zu spät, die beiden Fähigkeiten für glückliche Beziehungen (VERBINDEN und ABGRENZEN) weiterzuentwickeln.

Sind Sie eine Person, die gerne umgänglich ist, sich kümmert, sich lieber anpasst – aber sich richtig schwertut, anderen etwas zu sagen, was sie enttäuschen könnte (wie Mia)? Dann wäre es ein befreiender Schritt in ihrem Leben, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und in Freundschaften Farbe zu bekennen. Sagen Sie in einem sicheren Rahmen, was Sie stört. Erfahren Sie, dass es möglich ist, verbunden zu bleiben, obwohl (oder gerade weil) Sie eine klare Linie aufzeigen.

Oder sind Sie ein Mensch, der mit beiden Beinen im Leben steht – aber bei Kontrolle von außen unruhig wird (wie Max)? Fühlen sie sich von den Erwartungen anderer eingeengt oder sogar ihren Wünschen ausgeliefert? Dann könnte es das Abenteuer ihres Lebens werden, sich in Menschen hineinzufühlen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und in einem sicheren Rahmen auf sie einzugehen. Erfahren Sie, dass es möglich ist, eigenständig zu bleiben, obwohl Sie sich bewusst anpassen.

Ich selbst finde mich in Max wieder. Und in Mia. Je nach Situation. Aber ich bin dabei, dazuzulernen, denn ich habe immer noch die feste Überzeugung:

BINDUNG macht uns Angst GLÜCKLICH

 

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Autor: Judith Fockner

... ist Theologin und Religionspädagogin. Mit ihrem Mann Sven und ihren beiden Söhnen lebt die gebürtige Wienerin zurzeit in Hessen.

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