Artikel aus dem Hope Magazin

01.09.2024

Bitte, nach dir!

Die Mutter aller Kommunikationsweisheiten

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„Kommunikation“ ist ein seltsames Wort. Auf der einen Seite ist es fast schon so etwas wie ein Allerweltswort, das wir permanent irgendwo sehen, hören oder auch selbst verwenden. Wir kommunizieren permanent – damit ist es fast schon etwas Banales.

Auf der anderen Seite ist der Begriff uneindeutig. Er hört sich irgendwie technisch und kompliziert an, wir assoziieren damit möglicherweise 100 verschiedene Dinge und uns ist bewusst, dass wir zwar alle „Dauerredner“ sind – doch kaum jemand würde von sich selbst behaupten, ein Kommunikationsprofi zu sein. Denn so viel wir auch theoretisch wissen, so wenig setzen wir davon manchmal in der zwischenmenschlichen Realität um. Darin liegt wohl der Grund, dass zu den zigtausenden existierenden Publikationen immer neue Bücher und Artikel zu dem Thema erscheinen. Kommunikation ganz allgemein, in der Partnerschaft, mit den Kindern, im Unternehmen, „Wie rede ich mit meinem Hund“, im interkulturellen Kontext, die notwendigen kommunikativen Spielchen in der Politik und vieles mehr.

Gibt es überhaupt etwas Grundlegendes und Fundamentales, sozusagen, die endgültige Weisheit des Sprechens? Einige Weisheitssprüche kennen wir: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ – klingt gut, ist es auch, aber nicht immer. So manche Frau wünscht sich inniglich, dass ihr Partner bereitwilliger von seinem Leben erzählen würde. „Ein Mann ein Wort, eine Frau ein Wörterbuch“, ist wissenschaftlich nicht haltbar, und so nebenbei gesagt auch etwas sexistisch. Die indianische Weisheit: „Gehe hundert Schritte in den Mokassins eines anderen, damit du ihn verstehen kannst“ spricht den Bereich der Empathie an – auch gut, klingt aber etwas esoterisch. „Hättest du geschwiegen, würde man dich weiterhin für weise halten“ – der kommt sowohl in der Bibel als auch bei den Philosophen des 5. Jahrhunderts vor. Und hat sich in unserem Leben auch schon vielfach bewahrheitet.

Als Seelsorger, Paarberater, Mentor und Coach habe ich mir überlegt, welches Kommunikationszitat ich als „Mutter aller Kommunikationsweisheiten“ definieren würde. Und ich habe für mich persönlich eines gefunden. Es sind sogar nur drei Wörter, also kurz und bündig: „Bitte, nach dir!“ Wie gefällt dir das? Klingt irgendwie vertraut, oder? Aber wohl nicht so sehr als Gesprächsprinzip, sondern viel mehr in einer Situation, bei der man entscheiden muss, wer zuerst durch eine geöffnete Tür hindurchschreitet. Ich verstehe diesen Satz jedoch als prinzipielle Sichtweise eines Menschen, der einen Grund hat zu sagen: „Du zuerst“. Dabei geht es nicht um eine Kommunikationstechnik, sondern viel mehr um eine ethische Grundeinstellung. 

Wir kennen alle Gesprächssituationen, bei denen eine Person zuhört, ja sogar mit dem Kopf zustimmend nickt – scheinbar. Denn im Nachhinein betrachtet, war dieses unterstützende Zuhören nichts anderes als Anlauf nehmen, um mit einem „Ja, aber“ mit großer Wortgewalt eine entgegengesetzte Meinung eloquent und wortreich entgegenzuschmettern. „Bitte, nach dir!“ bedeutet ganz etwas anderes. Es ist der ehrliche Wunsch, die Meinung meines Gegenüber so gut es geht zu erfassen. Denn wenn uns das gelingt, dann erfüllen wir in diesem Moment eine große Sehnsucht eines unserer Mitmenschen und Bundespartner.

Es geht uns allen so. Wir sehnen uns danach, verstanden zu werden. Die Welt ist ungerecht: Ich werde benachteiligt, nicht angehört, unterdrückt, nicht ernstgenommen, bewusst oder unbewusst falsch verstanden, meine Erfahrung einfach wegdiskutiert, meine Persönlichkeit unterschätzt, Halbwahrheiten verbreitet, ganze Lügen stehen gelassen. Dagegen wehre ich mich. Ich will gehört werden. Was ich denke, fühle und glaube ist wichtig!  Und ich habe ein Recht darauf, dass andere mich richtig verstehen und wissen, wie ich es meine.

Dieses Bedürfnis spornt uns in unseren Gesprächen an, macht sie manchmal jedoch schwierig. Denn wenn in einer Unterhaltung alle Beteiligten damit beschäftigt sind, sich selbst sichtbar zu machen, dann bleibt kaum mehr Energie, das Gegenüber zu erkennen. Und genau deswegen ist es so wichtig, dass einer dem anderen den Vortritt lässt und sagt. „Zuerst will ich dich verstehen“. Das ist nicht nur höflich, sondern durchaus „eigennützig“. 

Meinem Gesprächspartner den Vortritt zu lassen bedeutet, im Gespräch immer wieder nachzufragen, ob man es richtig verstanden hat. Das wird nicht immer sofort der Fall sein, aber das macht nichts. Denn das Gegenüber merkt, wenn jemand aufrichtig zuhört. Das Ganze gleicht ein wenig einem Tennisspiel. Jemand schießt mir (manchmal vielleicht sogar mit ziemlich viel Wucht) den Ball hin-über, ich retourniere den Ball, in dem ich mit eigenen Worten zurückfrage, ob eine Aussage so gemeint ist. Dann kommt der Ball wieder zurück, im Ideal-
fall schon mit etwas weniger Schwung. Das wiederum bietet eine neue Gelegenheit, den Ball mit empathischem Schnitt versehen zurückzubefördern. So ein Tennisspiel kann durchaus länger dauern. Gerade bei emotionalen Themen, die sich vielleicht über längere Zeit aufgestaut haben und sehr komplex sind kann so ein Tennismatch über mehrere Sätze gehen. Aber irgendwann kommt dieser Moment, wenn mein Gegenüber mir zu erkennen gibt, "Ja, du hast mich verstanden" - und zur Ruhe kommt. Das bedeutet viel. Es meint, dass sie oder er sich wertgeschätzt fühlt, die eigene Meinung als wichtig klassifiziert wurde und man von einem anderen Menschen „erkannt“ wurde. Das ist gut. Man muss deswegen nicht einer Meinung sein. Doch allein dieses Wahrgenommenwerden meiner Einzigartigkeit ist eines der ganz starken Grundbedürfnisse von uns sozialen Wesen.

Jetzt noch einmal zur Andeutung, dass dieses Verhalten durchaus als eigennützig betrachtet werden kann: Wenn ich darin investiere, meinem Gegenüber alle Zeit der Welt zur Selbsterklärung zu geben, dann versetzt das meinen Gesprächspartner auch in die emotionale Stimmung, mir danach ganz und gar zuzuhören. Ganz einfach aus Dankbarkeit für den ihm entgegengebrachten Respekt und weil keine Energie mehr dafür verbraucht wird, sich auf die eigene Meinung zu konzentrieren. Das zu verwirklichen ist ein einfaches Prinzip, aber die Umsetzung kann schwerer fallen als man denkt. Ich erinnere mich an ein Gespräch eines Ehepaares. Die Frau hatte die Aufgabe, mit eigenen Worten einen Wunsch an ihren Mann zu richten. Daraufhin hatte der Mann die Aufgabe, den Wunsch seiner Frau mit eigenen Worten wiederzugeben. Er musste diesem Wunsch nicht zustimmen und sich zu nichts bereiterklären. Bis die beiden Sätze – ihre Meinung & seine Wiederholung – Raum in der Wirklichkeit fanden, dauerte es eine halbe Stunde. Zu groß war seine Angst, etwas auszusprechen, was er selbst mit seiner eigenen Meinung zu diesem Zeitpunkt nicht in Übereinstimmung bringen wollte oder konnte.

„Bitte, nach dir!“ – das ist ein großer Dienst an unserem Mitmenschen. Wenn wir uns immer wieder neu für diese Liebestat entscheiden, erleben wir, dass unsere zwischenmenschlichen Beziehungen enger und vertrauter werden.

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Autor: Gernot Kopa

Pastor mit Schwerpunkt Beziehungen, Ehe und Familie

Artikel-Bildnachweis: Sasiistock – gettyimages.de