Artikel aus dem Hope Magazin
Ein historischer Moment
Wird sich Künstliche Intelligenz als Fluch oder Segen erweisen?

Im heute-Journal, das am 30. April 2023 zum 30. Geburtstag des Word Wide Web ausgestrahlt wurde, unterhielt sich Moderator Christian Sievers mit „Jenny“, einer Figur (neudeutsch: Avatar), die wie eine junge Frau aussah und als künstliche Intelligenz durchaus vernünftige Antworten gab – vor Jahren undenkbar.
Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Es ist ein historischer Moment. So, wie vor Jahrzehnten Dampfmaschine und Automobil die Welt verändert haben, tat es seit 1993 das Internet. Fügt man noch Smartphone und soziale Medien hinzu, die in wenigen Jahren alle Altersgruppen erobert haben, bekommt man eine leise Ahnung, was das jüngste Kind der Digitalisierung, die Künstliche Intelligenz (KI), zuwege bringen wird.
Das Ganze stoppen?
Es hat keinen Sinn, die Künstliche Intelligenz aufhalten zu wollen. Schon in der Bibel heißt es zu Beginn im Zusammenhang mit dem Turmbau von Babel: „Dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“ (1. Mose 11,6)
Beinahe täglich gibt es neue Meldungen über neue Möglichkeiten, die auch dem unerfahrenen Endanwender zur Verfügung stehen. Die KI ergänzt auf Wunsch Fotos mit Details, die gar nicht mitfotografiert wurden, erstellt realitätsnahe Videos, die nicht gefilmt wurden und erschafft auf der Basis weniger Wörter in Sekundenschnelle Bilder.
Spätestens seit der Veröffentlichung des Text-Werkzeugs ChatGPT*, eines sogenannten Chatbots, hat KI auch den Durchschnittsmenschen am Computer erreicht. Ein junger Mann aus meiner Verwandtschaft hat ChatGPT einen Aufsatz schreiben lassen und als angeblich selbst verfasste Hausaufgabe eingereicht. Er bekam eine gute Note. In meiner Fotogruppe zeigte ein Teilnehmer am Schluss seiner Fotoreihe zum Thema „Frühling“ das Bild einer realistisch anmutenden Osterglocke, das er von KI hatte erstellen lassen. *(Generative Pre-trained Transformer) ist ein Chatbot, der künstliche Intelligenz einsetzt, um mit Nutzern über textbasierte Nachrichten zu kommunizieren. Er nutzt moderne maschinelle Lerntechnologie, um Antworten zu generieren, die natürlich klingen und für das Gespräch relevant sein sollen. Den Chatbot entwickelte das US-amerikanische Unternehmen OpenAI mit Sitz in Kalifornien, das ihn im November 2022 veröffentlichte. (Zitiert aus Wikipedia., Zugriff am 14.6.23)
Es gibt auch Grenzen. Der Chatbot erklärt: „Obwohl wir Schutzmaßnahmen getroffen haben, kann das System gelegentlich falsche oder irreführende Informationen liefern und beleidigende oder parteiische Inhalte produzieren.“ Da das System darauf beruht, einfach immer das nächstlogische Wort an das vorhergehende anzufügen, gibt es keine überwachende Instanz, weder was Wahrheitsgehalt noch ethische Vertretbarkeit angeht. Auch schlicht dumme Antworten sind möglich. Beispiel: „Wenn ich fünf Wäschestücke in der Sonne in 15 Minuten trocknen kann, wie lange dauert es dann, wenn ich zehn Wäschestücke zum Trocknen auslege?“ Kein Mensch würde als Antwort „30 Minuten“ sagen. Aber KI brachte das zuwege, dieses Mal. Doch sie lernt rasend schnell dazu. Der Chatbot lieferte mir beispielsweise in Sekundenschnelle eine Formel, die ich für Excel brauchte, inklusive schrittweiser Erläuterung zur Anwendung.
Mögliche Folgen?
Die Wirkung von KI beschränkt sich nicht nur auf das Ergänzen von Bild-
inhalten oder Videosequenzen. Die Anwendungsbereiche sind sehr breit gefächert. KI kann rasend schnell Gesichter erkennen oder Emotionen feststellen. In einem bemerkenswerten Schritt meldeten sich Milliardär Elon Musk und andere Vertreter der KI entwickelnden Tech-Giganten mit dem Ruf nach einem Entwicklungs-Moratorium, weil sogar sie die potenzielle Gefahr sehen.
Wie bei allen technischen Umbrüchen wird es unweigerlich Folgen für die Arbeitswelt geben. Computer zu zertrümmern wäre genauso wenig zielführend wie damals, als man aus Protest Maschinen zerschlug. Aber es liegt auf der Hand, dass KI stark in das Leben von Menschen eingreifen wird, die mit Texten umgehen. Dazu gehören Redakteure, Übersetzer und Programmierer. Aber auch für Künstler im Bereich Musik, Grafik oder Video wird sich die Welt ändern. Es werden viele Jobs wegfallen, laut neueren Studien auch viele neue Aufgabenfelder entstehen. Allerdings wird das weniger in den einfachen als mehr in den anspruchsvolleren Tätigkeiten geschehen. Insofern wird berufliche Bildung hohe Bedeutung haben.
Als weitere Folge werden wir dem, was wir sehen, immer weniger vertrauen können. Was ist echt, was falsch, was ist wahr, was gelogen?
Was tun?
Ein Geburtsfehler zeigt sich schon zu Beginn der KI-Welle. Wie kann es sein, dass die KI millionenfach mit Werken trainiert wird, deren Urheber keinerlei Würdigung, geschweige denn Vergütung erhalten? Und woher weiß ich, dass die Antwort der KI, ob nun als Video, Bild oder Text, nicht einfach irgendwoher „geklaut“ wurde. Ich werde zum potenziellen Plagiator, wenn ich Dinge ohne korrekte Quellenangabe verwende. Darum ist die EU-Kommission zurzeit bestrebt, eine Kennzeichnung von KI-Inhalten zur Pflicht zu machen. Bald aber werden zumindest KI-Elemente in vielen Werken enthalten sein. Ab wann gilt dann die Kennzeichnungspflicht? Das anfangs genannte Beispiel des Schülers darf keinesfalls Schule machen.
ChatGPT schlug zu der Frage vor: „Es ist wichtig, ethische Standards und moralische Werte in der Entwicklung von KI-Systemen zu berücksichtigen, um sicherzustellen, dass sie keine negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Unternehmen und Regierungen sollten sicherstellen, dass ihre KI-Systeme transparent, fair und ethisch vertretbar sind ... Regierungen sollten Regeln und Vorschriften einführen, um die Verwendung von KI-Systemen zu kontrollieren und zu überwachen.“ Mit wenig Fantasie lässt sich ausmalen, was passiert, wenn Regierungen statt oder sogar mittels der KI-Systeme lieber die Menschen überwachen ...
Wir haben es in der Hand
Es ist mit der Künstlichen Intelligenz das Gleiche wie mit allen anderen Werkzeugen, die der Mensch erfunden hat. In seinen Händen können sie immer zu etwas Gutem, Nützlichem, Wertvollen werden, aber auch zu etwas Schädlichem, Entwürdigendem, sogar Tödlichem. Insofern werden die Auswirkungen der KI sicher zum Abbild unserer zerrissenen menschlichen Natur: fähig zu bewundernswerten Meisterleistungen und ethisch hohen Standards, aber auch zu erschreckender Gefühllosigkeit und Brutalität.
Für die Generation der Heranwachsenden wird sich die Bildung ändern. Das Wiedergeben auswendig gelernter Inhalte wird zurücktreten, die Fähigkeit zum kritischen Bewerten wachsen. Es wird wichtiger denn je, Echtes von Falschem zu unterscheiden. Die Frage nach „Wahrheit“ bekommt neue Aktualität.
Wir alle können für die Gesellschaft einen wertvollen Beitrag leisten, indem wir uns an die Empfehlung halten, die der Apostel Paulus damals einer jungen Gemeinde im östlichen Mazedonien schrieb: „Richtet eure Gedanken ganz auf die Dinge, die wahr und achtenswert, gerecht, rein und unanstößig sind und allgemeine Zustimmung verdienen; beschäftigt euch mit dem, was vorbildlich ist und zu Recht gelobt wird.“ (Philipperbrief 4,8, Neue Genfer Übersetzung)
Diese alten Werte können auch in einer modernen, technisierten Welt die Grundlage für ein gedeihliches Miteinander bieten.
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Ein Service der Hope Hörbücherei.

Autor: Matthias Müller
Mitbegründer von HopeTV, Pastor i. R., Religionspädagoge, verbringt den Ruhestand an der Nordsee und macht gern Fotos und Videos für YouTube und Instagram.
Artikel-Bildnachweis: Userba011d64_201 – gettyimages.de