Artikel aus dem Hope Magazin
Familien in der Zerreißprobe
Ja, es stimmt, diese Pandemie ist anstrengend und wir alle wären froh, sie endlich bald zu überwinden.

Doch, obwohl das eigene Eingeschränktsein stört, wenn man es sich genau überlegt, gibt es da immer noch Berufs- und Personengruppen, mit denen man wirklich nicht tauschen möchte: Intensivmediziner oder Gesundheitsminister zum Beispiel. Und wie steht es um die Mütter und Väter, die täglich mit Homeoffice und Home-schooling jonglieren? Ein Kleinkind und ein Schulkind betreuen und trotzdem das normale Arbeitspensum schaffen, nur eben von zuhause aus und mit nur einem Arbeitszimmer, dessen Schlüssel schon beim Einzug gefehlt hat. Das klingt nach einem Drahtseilakt, bei dem zwangsläufig etwas oder jemand auf der Strecke bleibt.
Schon ohne Pandemie stehen Familien von heute vor großen Herausforderungen. Sie sollen sowohl die Partnerschaft zwischen Mann und Frau sowie die Erziehung von Kindern und Jugendlichen neu erfinden, und das mit Werten und Zielen wie Gleichberechtigung und dem Wunsch, dass es die Kinder heute besser haben.
Eltern gebührt allergrößter Respekt
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul schreibt dazu: »Wir sind Zeugen von viel mehr als einem Generationenwechsel, in dem die Jungen etwas Neues wollen. Die Ehe ist nicht länger eine soziale oder moralische Notwendigkeit, sondern eine existenzielle und emotionale Wahl; wir sehen neue Familienformen und Formen des Zusammenlebens: die Geschlechterrollen befinden sich in der Auflösung, und mitten in diesem Ganzen sollen wir uns Kindern und Jugendlichen gegenüber verhalten, die einen ganz neuen Status, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft bekommen haben. Ich habe den allergrößten Respekt vor den vielen Eltern, die den Mut haben, sich zur Unsicherheit zu bekennen und die die Energie dazu haben, sich in eine Entwicklung zu stürzen, die den meisten ansonsten sowohl den Mut als auch den langen Atem rauben kann.« (Die kompetente Familie, 2007, S.27)
Ich möchte die innerfamiliären Schwierigkeiten an einer typischen Familie aus dem Mittelstand aufzeigen: Herr und Frau M. kommen zur Paartherapie, weil sie nicht mehr wissen, wie und ob sie ihre Beziehung weiterführen können. Beide arbeiten in anspruchsvollen Berufen und haben ein gemeinsames fünfjähriges Kind. Die Eltern teilen sich sehr gleichberechtigt die Betreuung des Kindes und den Haushalt. Jedes zweite Wochenende kommen zwei Kinder aus der ersten Beziehung des Mannes dazu.
Beide machen sich gegenseitig Vorwürfe; beide haben das Gefühl zu kurz zu kommen und zu viel Last zu tragen. Der Mann meint, dass er sich schon mehr einbringt als er schafft und keine Zeit für sich selbst bleibt. Die Frau hat ebenso das Gefühl, dass alles an ihr hängen bleibt und ihr alles zu viel ist. Beide rechnen sich gegenseitig vor, wie viel der andere für sich bekommt und wie viel einem selbst fehlt.
Durch die gegenseitigen Vorwürfe hat das Paar eine Mauer aus Wut, Enttäuschung und Kränkung zwischen sich aufgebaut, so dass ihre ehemals positiven Gefühle von Wertschätzung und Liebe kaum mehr vorhanden sind. Gemeinsame Zeit findet seit der Geburt des Kindes nicht mehr statt, zuerst, weil keine Kraft dafür übrig war und dann wegen der Mauer.
Ihr gemeinsamer fünfjähriger Sohn wird auch immer fordernder. Sie bemühen sich sehr, es ihm recht zu machen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, ihm zu wenig Zeit zu schenken. Auch er bekommt nicht genug von dem, was er braucht, und spürt unterbewusst, dass sein »Nest« unsicher ist. Das beunruhigt ihn. Den zwei älteren Kindern möchte sich der Vater alle zwei Wochen intensiv widmen. Das ist für seine Frau wieder ein Grund, sich noch mehr zurückgesetzt zu fühlen, weil diese Zeit ja auch nicht für sie zur Verfügung steht. Auch die Kinder werden unbewusst in den Konkurrenzkampf mit hineingezogen.
Jeder bleibt hungrig
Mir kommt bei der Familie ein Bild in den Kopf: da sind fünf Personen, die alle ganz großen Hunger haben, aber das Essen reicht nicht. Sie streiten sich darum, wer wie viel bekommt und können sich nichts gönnen, weil jeder hungrig bleibt.
Wir stellen in den Gesprächen fest, dass niemandes Grundbedürfnisse erfüllt werden, nicht die des Paares, des gemeinsamen Kindes oder der Kinder des Mannes. Die beiden Erwachsenen haben als Kinder schon nicht genügend Liebe von ihren Eltern erfahren dürfen. So sind beide selbst noch »hungrige Kinder«, deren unerfüllte Bedürfnisse gestillt werden wollen. Das muss zu Enttäuschungen führen. Denn kein Partner kann die alten Bedürfnisse stillen, die jemandem als kleines Kind nicht erfüllt wurden. Da bleibt eine Lücke, ein Defizit. Dies ist nötig zu betrauern und dann die Verantwortung selbst in die Hand zu nehmen. Es gilt anzufangen, sich selbst mehr anzunehmen und selbst besser für sich zu sorgen. Das ist nicht einfach, aber möglich, Schritt für Schritt.
Als die beiden beginnen, selbst die Verantwortung für ihre Bedürfnisse zu übernehmen und sich nicht mehr zu beschuldigen, stellt sich Entlastung ein. Dabei wird es wichtig, dem anderen mitzuteilen, wie man empfindet und was man sich wünscht. Manche Wünsche kann der Partner erfüllen, andere nicht. Dann muss man überlegen, wie man für sich selbst sorgen kann. Wenn man nicht mehr erwartet, dass der Partner für sein eigens Glück zuständig ist, gibt es weniger Enttäuschung. Man kann den Partner so lassen, wie er ist, und muss ihn nicht mehr verändern. So kann jeder mehr zu sich finden und anfangen, sich selbst anzunehmen.
Sich selbst lieben, um andere lieben zu können
Die Mauer fängt an zu bröckeln. Langsam können wieder kleine Pflänzchen von positiven Gefühlen wachsen – positive Gefühle für sich selbst und für den Partner. Da wird die alte biblische Weisheit: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« spürbar. Nur wenn ich mich geliebt fühle, mich selbst wertschätze, gut für mich sorge, kann ich auch den anderen, den Partner, das Kind lieben. Und ich darf mich lieben, weil Gott mich liebt. Es ist sehr hilfreich, an einen Gott glauben zu können, der mich liebt, so wie ich bin.
Stellen Sie sich die Frage: »Welches Bedürfnis kommt bei mir zu kurz?« und dann die Frage: »Was kann ich tun, dass dieses Bedürfnis einen Platz in meinem Alltag findet?« Dabei gilt: Jeder trägt für sich selbst die Verantwortung, nicht das Kind, nicht der Partner und nicht die Umstände. Keiner muss anders werden. Jeder darf dem anderen seine Gefühle und Wünsche mitteilen, aber keine Vorwürfe machen. Die Eltern haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Bedürfnisse der Kinder gestillt werden. Die Erwachsenen können sagen, was sie wollen und was nicht wollen.
Raus aus alten Mustern
Wenn wir uns mitteilen und uns authentisch mit unseren Gefühlen und Grenzen begegnen als eigenständige, unabhängige Persönlichkeiten, dann gibt es weniger Konflikte, bzw. sind sie eher zu lösen. Um das möglich zu machen, müssen auch manchmal die »Gespenster der Vergangenheit«, die uns hindern, dingfest gemacht werden. Das sind alte Verletzungen, alte eingeübte Muster, die wir gebraucht haben, um als Kinder möglichst viel Anerkennung bei unseren Eltern zu bekommen, oder Abhängigkeiten, um Defizite in unseren Beziehungen zu ersetzen. Vor allem unsere Kinder brauchen authentische Persönlichkeiten als Eltern, die klar zu ihren Werten, Gefühlen und Grenzen stehen können. Da kann Erziehung zur helfenden Beziehung werden.
Die Zerreißprobe der Familien hat nicht nur Ursachen in den heutigen Lebensbedingungen. Unsere persönliche Geschichte, die Verletzungen hinterlassen hat, die wir unbewusst in die Familie einbringen, sind ebenso herausfordernd. An den äußeren Umständen können wir oft wenig ändern, aber unsere Einstellung zum Leben und unsere Beziehungen können wir beeinflussen und daran arbeiten, dass sie gesund werden. Dann haben wir mehr Widerstandskraft gegenüber schwierigen äußeren Belastungen.
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Was sind Grundbedürfnisse?
Essen, Schlafen, Geliebt werden, Anerkennung bekommen, Soziale Kontakte, Selbstbestimmung, Zeit für sich, Sicherheit, Geborgenheit. Wenn Grundbedürfnisse über längere Zeit nicht gestillt werden, entsteht Unzufriedenheit, Wut, Trauer, Angst, bis zu körperlichen und seelischen Erkrankungen.
Wie merkt man die eigenen Bedürfnisse?
Unsere Gefühle sind wichtige Indikatoren dafür. Wenn man sie übergeht, geht es einem nicht gut. Wenn man sie lange übergeht, leiden Körper und Seele.
Wie kann man die eigenen Bedürfnisse in der Familie leben?
Da gibt es auch die Bedürfnisse der anderen, die des Partners und der Kinder! Mann, Frau und Kind(er) sind alle gleich wichtig in der Familie und haben alle das Recht auf ihre Bedürfnisse. Sie sind gleichwürdig. Je mehr Bedürfnisse jedes Einzelnen in der Familie befriedigt werden, desto besser geht es der ganzen Familie und jedem Einzelnen.
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Ein Service der Hope Hörbücherei.

Autor: Annelies Plep
Psychoanalytische Familien-, Paar- und Sozialtherapeutin, Gründerin und Leiterin des Familienzentrums Arche Noah in Penzberg, verheiratet, drei erwachsene Töchter und vier Enkelkinder
Artikel-Bildnachweis: Frido – gettyimages.de