Artikel aus dem Hope Magazin

01.06.2023

Ganz bei mir angekommen

Sieben Tage im Schweigekloster

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„Komm rein in die Stille“, meinten meine Freundinnen, „Wir kümmern uns um den Rest.“ Wir sind seit dem Studium noch immer unzertrennlich, also hatte ich keinen Zweifel, dass sie das tun würden. Jede auf ihre Art. Ich wusste, meine Zwillinge sind bei ihnen in guten Händen, und selbst meine Pubertierende haben sie im Griff. „Da darfst du du sein. Einfach nur du." Okay, aber ich frage mich ernsthaft, warum sie mich nicht nach Teneriffa oder wenigstens nach Schottland schicken, sondern in dieses mittelalterliche italienische Schweigekloster. 

Mit einem kleinen Bus geht’s vom Flughafen raus aus der Stadt und ab in die Einsamkeit. Über kaum befahrene Straßen erreichen wir schließlich hoch in den Bergen das Kloster. Unsere „tägliche Technik“ dürfen wir abgeben, am besten sollte man iWatch und Co gar nicht erst mitbringen. Es gibt kein W-Lan und der Mobilempfang ist schon beim Reingehen nur noch auf einen Balken Empfang geschrumpft. Dafür bekommen wir im Austausch analoge Wecker. Juche. Die Regeln sind eindeutig. Schweigen. Stille. Keine Gespräche, auch nicht beim Essen. Nur die rituellen Gebetszeiten unterbrechen die Ruhe. Pater Rigosa kann erstaunlich gut deutsch. Er hat an der TU in München studiert und ist nach einer spontanen Einkehrwoche einfach geblieben. Er ist hochzufrieden, sieht entspannt und glücklich aus. Ich indes spüre meinen Puls. Sieben Tage soll dieses Experiment dauern?!

Die mitgebrachten Bücher dürfen wir nach kurzer Begutachtung behalten, nicht aber die Zeitschriften. Das Zimmer ist klein, aber ich mag es. Es ist schlicht klug geordnet. Mein Bett ist bezogen und erinnert mich an meine Oma. Es sind ihre Farben. Dunkles Mahagoni, Damastbettwäsche, weiße Gardinen. Eine stehengebliebene Standuhr wurde vermutlich nicht aufgezogen, weil sie zu laut ist. Feines Porzellan und ein alter Wasserkocher, orange, mit stoffummanteltem Kabel. Es gibt Strom!

Die Stille schreit mich an - oder bin ich das?

„Komm rein in die Stille“, heißt es, aber es ist eher umgekehrt. Die Stille bricht ein und ich bin allein mit mir. Nichts, was mich ablenkt. Nicht mal die neuen Eindrücke und die vertrauten und zugleich unbekannten Gerüche. Seit Langem höre ich wieder mal meine Gedanken. Sie sind unsortiert und stürmen gnadenlos auf mich ein. Zuhause hätte ich schon längst den Fernseher angemacht, meinen Instagram-Account auf Neuigkeiten überprüft und nebenbei E-Mails gelöscht. Hier schreit mich die Stille geradezu an oder bin ich das selbst? Es fühlt sich wie Entzug an. Ich höre mich atmen. Ich spüre die wunde Stelle am Knie und meine verspannten Schultern. Ich habe viel zu viel mitgenommen. 

Die Glocken läuten. Es geht erst zum Abendgebet und anschließend zum Abendessen. Und zum ersten Mal hier im Kloster freue ich mich. Kein lästiger Smalltalk, keine Vergleiche, keine Bewertungen. Die Kleidung sollte dezent sein, hieß es in der Einladung, und geräuscharm. Das Essen ist schlicht, aber schmeckt ausgezeichnet. Ich denke wieder an Oma. Müde schlafe ich viel früher als üblich ein. Welcher normale Mensch geht schon um 20 Uhr schlafen?! 

Die Tage vergehen. Ich lese ohne Ablenkung. Ich bin bei mir. Ich esse voller Genuss und frage mich, warum das
zuhause nicht genauso sein kann.
Immer mehr denke ich über meine überladene Wohnung und all den Aufwand nach, den ich betreibe. Für wen oder was eigentlich? 

Der vierte Tag bricht an. Inzwischen bin ein wenig vertraut mit dem Kloster. Gestern habe ich auf dem Gelände sogar Stimmen gehört. Es waren der Bäcker und sein Geselle, um das Brot zu liefern. Bis der eigene Backofen im Wirtschaftshaus seinen neuen Schornstein bekommt, wird das Brot zugekauft. 

Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräusche

Die Tage hier haben einen angenehmen Rhythmus und langsam dämmert mir, dass Stille mehr ist als die Abwesenheit von Geräuschen. Stille ist, vielschichtig, archaisch; abends zufrieden in das Feuer schauen und mit sich im Frieden sein. Stille ist bei sich sein können, sich spüren und ernst nehmen. Stille ist unterscheiden zu können zwischen Wichtigem und unnötig Dringendem. 

Wenn ich meine Erfahrungen hier Revue passieren lasse, erkenne ich fünf grundsätzliche Aspekte der Stille.  

  1. Meine Aufmerksamkeit hat sich verändert. Ich merke viel mehr von dem, was ich sonst im Alltag übergehe. All die Hinweise, die mir mein Köper gibt, nehme ich hier intensiver wahr. Still zu sein bringt mich in die eigene Gegenwart, dorthin, wo mein Leben geschieht. Weder räsoniere ich über Vergangenes, noch schaue ich angestrengt in die Zukunft. In der Stille bin ich hier und jetzt und kann eins nach dem anderen angehen.
  2. Mein Stresslevel ist sichtlich niedriger. Sogar viel niedriger als sonst im Urlaub. Ich bin weniger gereizt und hektisch. Der Tagesrhythmus hilft mir, in eine zufriedene Routine zu kommen. Ich bin mir sicher, dass sogar Blutdruck und Puls gesunken sind. 
  3. Stille ermöglicht, kreativ zu sein: Ich habe ein Gedicht geschrieben. Nicht als Auftrag, sondern als Ausdruck meiner inneren Gedanken und Gefühle. Ich spüre deutlich das „ich will“ statt „ich muss“. 
  4. Seit Langem bewegt mich die Frage nach meinem Platz im Leben. Wenn ich meine Kinder sehe, habe ich eine vage Vermutung. Hier im Kloster bin näher an diese Frage gerückt. Gregorianische Gesänge sind zwar nicht meins und noch weniger die mittelalterliche Ikonographie. Doch dem Wesen der Dinge auf die Spur zu kommen schon. Im Alltag fehlt oft die Zeit und vor allem die Stille, um das Wesentliche zu erkennen. 
  5. Es mag fast banal klingen, aber trotz knarzendem, 250 Jahre altem Bett habe ich besser und vor allem durchgeschlafen. Es ist fast ein Klischee. Aber es selbst zu erleben, macht den Unterschied. Das ist wahrer Luxus. 

Was bleibt?

Die Stille hat viele Gesichter – und meinem eigenen offene Augen und entspanntere Mundwinkel verpasst. Vor allem aber überlege ich, wie ich die Stille mit nach Hause nehme. Mitten in meinen Alltag. Vielleicht beginne ich damit, Fernseher und Tablet aus Küche und Schlafzimmer zu verbannen denn in der Stille bin ich mehr ich. Auf jeden Fall komme ich nächstes Jahr wieder her. Wer hätte das gedacht.

Autor: Christiana Bär

Artikel-Bildnachweis: SimonSkafar – gettyimages.de