Artikel aus dem Hope Magazin
Gerechtigkeit – zum Scheitern verurteilt?
Schönheit, sagt man landläufig, läge im Auge des Betrachters.

Mit dieser Redewendung wird sehr deutlich, dass „Schönheit“ kein objektives Gut ist. Schönheit ist vielmehr den Präferenzen des Betrachters unterworfen und damit sind höchst überraschende Ergebnisse vorprogrammiert.
Gerechtigkeit hingegen scheint sich einer so spezifizierten Betrachtung zu entziehen, haftet dem Begriff „Gerechtigkeit“ doch die Aura der für alle verbindlichen Bedeutung an. Und dabei ist Gerechtigkeit kein freischwebender Begriff, sondern wir haben Konstruktionen erdacht, um eben diese Gerechtigkeit herzustellen: Gesetze. Eine Errungenschaft zivilisierter Gesellschaften besteht darin, dass diese Gesetze eine Allgemeingültigkeit aufweisen, folglich also für alle Menschen innerhalb eines Staates gleichermaßen gelten. Damit unterscheiden sich moderne Staaten, die sich gerne auch den Beinahmen „Rechtsstaat“ geben, deutlich von feudalen Staatsstrukturen. Dort gab es zwar ebenfalls Gesetzte, allerdings war deren Anwendbarkeit davon abhängig, welchen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stand man innerhalb dieser Gesellschaft eingenommen hatte. Je privilegierter, erfolgreicher, desto unbehelligter war man von Gesetzten, Regeln und Verboten.
Objektive Gerechtigkeit vs. subjektives Gerechtigkeitsgefühl
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang dann allerdings aufdrängt, ist doch, ob es innerhalb eines Rechtsstaates einen Zustand allgemeingültiger Gerechtigkeit gibt. Dazu wäre es erforderlich zu klären, was der Begriff Gerechtigkeit eigentlich bedeutet. Wenn man den Begriff in die Suchmaske des verwendeten Internetbrowsers eingibt, um Klarheit darüber zu erlangen, lassen die schlagartig auftauchenden Suchbegriffe wie Gerechtigkeitsempfinden und Gerechtigkeitsgefühl erahnen, dass es kompliziert werden könnte. Denn es liegt in der Natur einer objektiv bestimmbaren Sache, dass sie frei von individuellen Wertungen und Empfindungen sein muss. Alles hingegen, was mit Empfindungen, Vorlieben, Wünschen oder Bedürfnissen des Einzelnen behaftet ist, kann per se nicht objektiv, also für alle Menschen gleichbedeutend bestimmt werden.
Für allgemeingültige Gerechtigkeit, ist das Gericht der falsche Ort
Am Anfang meiner Karriere als Rechtsanwalt, hatte ich einen Fall vor dem Amtsgericht zu verhandeln. Das vom Amtsrichter gesprochene Urteil und das Gerechtigkeitsempfinden meines Mandanten waren nicht deckungsgleich, so dass ich den Auftrag erhielt, gegen das als ungerecht empfundene Urteil Berufung einzulegen. In der Berufungsverhandlung wetterte mein Mandant über die offensichtliche Ungerechtigkeit des amtsgerichtlichen Urteils. Nach kurzem Zuhören meldete sich ein erfahrener und in die Jahre gekommener Richter der Berufungskammer zu Wort. Im väterlichen und durchaus wohlwollenden Tonfall klärte er den Berufungskläger über einige Realitäten und Wahrheiten im Zusammenhang mit Gerichtsurteilen auf. „Wenn sie eine allgemeingültige Gerechtigkeit suchen, ist das Gericht der falsche Ort. Vor Gericht erhalten sie ein Urteil, manchmal auch nur eine Urkunde.“ Rechtsprechen, so der tiefere Sinn dieser Weisheit, hat etwas mit der dogmatisch richtigen Anwendung von materiellem und formellem Recht zu tun. Wurde die Rechtsanwendung korrekt durchgeführt, erhält man ein Dokument, das eben dies dokumentiert, kurz gesprochen ein entsprechendes Urteil. Wenn die dogmatisch richtige Anwendung des Rechtes nicht gelungen ist, bleibt zumindest eine Urkunde über.
Das soll gerecht sein?!
Ob man das Urteil als gerecht empfindet, hat im Wesentlichen damit zu tun, ob die eigene Rechtsposition Berücksichtigung gefunden hat, oder eben nicht. Ein erheblicher Teil meiner beruflichen Tätigkeit besteht seit ca. 15 Jahren darin, mit Menschen zu arbeiten, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt durch deutlich ältere Personen erfahren haben. Diese Menschen kämpfen bisweilen ihr Leben lang für ihr „Recht“, wobei dieser Begriff gleichbedeutend mit „Gerechtigkeit“ verwendet wird. Oft, all zu oft, haben die betroffenen Personen das Gefühl, diesen Kampf um Gerechtigkeit nicht gewinnen zu können. Wird zum Beispiel auf der Suche nach eben dieser Gerechtigkeit die Polizei eingeschaltet, also eine Strafanzeige erstattet, sehen sich die betroffenen Personen plötzlich damit konfrontiert, dass sie die sexuelle Gewalt, die ihnen widerfahren ist, beweisen müssen. Das ist, wenn im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Tat keine Spurensicherung stattgefunden hat, meistens aussichtslos. Auf die Frage, die mir in dem Zusammenhang von sexueller Gewalt Betroffenen gestellt wird – ob das „gerecht“ sein soll – lautet die Antwort eindeutig nein!
Auch Beschuldigte haben Rechte
Aber wie verhält es sich, wenn ich mich in die Rolle des Beschuldigten hineinversetze? Rechtsstaaten halten es sich zugute, dass Beschuldigte in einem Strafverfahren sehr starke Rechte haben, die auch dann gelten, wenn der erhobene Vorwurf eine durch und durch abscheuliche Handlung betrifft. Auch in diesem Zusammenhang spricht man von Gerechtigkeit, weil ein Beschuldigter nicht gefoltert werden darf, um die Wahrheit, die man gerne hören möchte, ans Licht zu befördern. Und auch wenn das Opfer ganz genau weiß, dass der Beschuldigte die Tat begangen hat, wird eine Verurteilung nur dann gelingen, wenn man die vorgeworfene Handlung beweisen kann.
Was benötigt mein Gegenüber, um Gerechtigkeit zu erfahren?
Schon aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass die Frage nach der Gerechtigkeit maßgeblich vom eigenen Horizont bestimmt wird, von dem, was ich mit meinem Wissen, mit meiner Geschichte und den daraus resultierenden Bedürfnissen als gerecht empfinde. Gerechtigkeit wird dabei gerne mit all den Dingen gleichgesetzt, die ich aus meinem Erlebnishorizont dringend benötige. Aber hat die Befriedigung eigener Bedürfnisse überhaupt etwas mit Gerechtigkeit gemeinsam? Im Idealfall wäre Gerechtigkeit dann erreicht, wenn die von einem Schiedsrichter getroffene Entscheidung von beiden Kontrahenten als richtig, als gerecht empfunden wird. Möglich ist diese Form von Gerechtigkeit allerdings nur dann sein, wenn ich mich als Konfliktpartei nicht ausschließlich mit meinen Bedürfnissen und den daraus abgeleiteten Forderungen beschäftige, sondern mir die Frage stelle, was mein Gegenüber benötigt um in seiner „Not“ Hilfe, besser gesagt Gerechtigkeit zu erfahren. Utopie? In vielen Fällen eindeutig ja. Als Partei eines Konfliktes ist man natürlicherweise selten Teil der Lösung, sondern fast ausschließlich Teil des Problems. Diese Position eignet sich auch nicht dazu, um Vorwürfe zu erheben, aber sie eignet sich doch hervorragend dazu, um besser zu verstehen, warum es sich bei den von uns Menschen erdachten Methoden, Gerechtigkeit zu gewährleisten, eben nur um einen mehr oder weniger gescheiterten Versuch handelt, so etwas wie Gerechtigkeit herzustellen.
Bedürfnisse abstimmen
Ein Grund zu verzweifeln? Sicherlich nicht! Wenn ich verstanden habe, dass Gerechtigkeit eben nicht einfach da ist, sondern nur dann wachsen und gedeihen kann, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen meines Nächsten abstimme und bisweilen auch bereit bin, meine eigenen ein Stück weit aufzugeben. Es gibt Situationen, wo diese Notwendigkeit objektiv nicht erreicht werden kann, weil die Verletzungen zu schwerwiegend sind. Erlebte sexuelle Gewalt ist dafür ein trauriger Beleg.
In vielen anderen etwas einfacher gelagerten Fällen könnte der dargestellte Weg aber eine erfolgversprechende Alternative sein. In diesem Sinne mutig werden!
- Gerechtigkeit - von vornherein zum Scheitern verurteilt?Audio-Datei zum Anhören dieses Artikels.

Autor: Oliver Gall
ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seit 1996 betreibt er eine Anwaltskanzlei in Hude. Er ist Gründungsmitglied und seit 2017 Leiter des Fachbeirats „Sexueller Gewalt begegnen“ der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland.
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