Artikel aus dem Hope Magazin

01.09.2023

Kinder und Medien

Der Kampf zwischen Ideal und Praxis

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Die Uhr zeigt 05:40 an. Es ist Sonntag. Ohne Kinder wäre das mein Ausschlaftag schlechthin, aber stattdessen turnt mein anderthalb Jahre alter Sohn auf mir rum als wäre es mitten am Tag. Diese Nacht ist er jede Stunde aufgewacht, scheint jedoch von der anstrengenden Nacht nichts mehr zu spüren. Energiegeladen krabbelt er auf meinen Schultern herum, zieht an meinen Haaren und möchte, dass ich mit ihm spiele. Aber ich bin müde, furchtbar müde und habe Angst, dass jeden Moment unsere zwei Monate alte Tochter aufwachen wird. 

Es wäre so einfach, ihn ganz schnell ruhig zu bekommen. Warum überlege ich dann noch? Sind es meine eigenen Kindheitserfahrungen, mein fachliches Wissen, meine praktischen Erfahrungen als Sozialarbeiterin oder die Erzählungen von Freunden mit Kindern, die mich zögern lassen?

Ich starre mein Smartphone an und frage mich, wie die Generation vor mir ohne dieses Teil ausgekommen ist. 

Wer ist länger am Smartphone – Eltern oder Kinder?

Die meisten Kinder der heutigen Zeit haben das Handy sehr früh kennengelernt. Bereits im Kreißsaal wird es oft verwendet, um wertvolle Erinnerungen festzuhalten. Mehr und mehr erleben sie mit, wie über Telefonate oder Videotelefonie Beziehungen zu Verwandten und Freunden gehalten werden. Ihre Eltern schreiben Nachrichten, lesen E-Mails, informieren sich über das aktuelle Weltgeschehen oder suchen einfach nach einem guten Restaurant. Wie oft haben mir Kinder im Job erzählt, dass ihre Eltern sehr viel Zeit am Handy verbringen. Für mich ist das kein Wunder, denn man kann auch wirklich fast alles mit diesem Ding erledigen. Gleichzeitig ist es vollkommen verständlich, dass Kinder dann nicht nachvollziehen können, warum sie im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht so viel Zeit mit diesem Gerät verbringen dürfen. Diese Diskrepanz in der Wahrnehmung zeigt sich in den Konflikten, die ich im Rahmen meines Jobs zu lösen versuche; verstärkt geht es um die erlaubte Nutzungsdauer von Handys bzw. Tablets. Natürlich sind ab einem gewissen Alter auch Videospiele ein großes Thema. 

Die BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) empfiehlt die Nutzung von Bildschirmmedien erst ab drei Jahren.¹ Von drei bis sechs Jahren empfiehlt sie eine tägliche Nutzung von höchstens 30 Minuten und von sechs bis zehn Jahren von höchstens 45-60 Minuten. Bei der Nutzung von Bildschirm-
medien sollte es ihrer Ansicht nach klare Vorgaben und Zeitlimits geben. Es gilt Interesse an den digitalen Aktivitäten der Kinder zu zeigen und viele medienfreie Unternehmungen (dann natürlich auch für die Erwachsenen) zu planen. Das klingt doch sehr vernünftig und logisch, oder?

Ideal vs. Praxis

An der Empfehlung, Kindern erst ab drei Jahren Bildschirmzeit zu erlauben, sind mein Mann und ich schon mal kläglich gescheitert. Unser Sohn ist sehr aktiv und schnell gelangweilt – ob  beim Essen, auf langen Autofahrten oder bei einem wohlverdienten Restaurantbesuch. Da wirken Kindermusikvideos oder Die Kinder von Bullerbü Wunder. Mache ich das, ohne jemals ein schlechtes Gewissen zu haben oder mich und meine pädagogische Fachlichkeit zu hinterfragen? Leider nein. Wenn mir eine Frau in den 50ern kopfschüttelnd von Müttern erzählt, die ihr Handy beim Kinderwagenschieben oder am Spielplatz verwenden, lindert das diese Schuldgefühle natürlich auch nicht gerade. Im Gespräch mit Eltern meiner eigenen Generation kann ich aber erkennen, dass es ganz vielen wie mir geht. Wir Eltern von heute werden von pädagogischen Ratschlägen regelrecht überrollt, vor allem digital. Die Ansprüche einer gelingenden Elternschaft steigen, man fühlt sich oft beobachtet und möchte, dass das eigene Kind natürlich liebend gerne teilt, nie jemanden schlägt und trotzdem ein starker und selbstbewusster Mensch mit Wünschen und Träumen wird.

Mutmachen statt verurteilen

Ich denke, dass die grundlegenden Aufgaben des Elternsein in unserer Zeit zwar nicht größer, die pädagogischen Empfehlungen und Studien aber präsenter geworden sind. Das ermöglicht zwar fundierteres Wissen, aber erhöht auch den Druck auf uns Eltern und macht auf Dauer auch müde. Die bedürfnisorientierte und verständnisvolle Erziehung ist kräfteraubend und die meisten Alltagsaufgaben sind da noch gar nicht erledigt. Da kann das Abspielen von Videos am Handy wahre Wunder bewirken. Denn es führt dazu, dass kurz Ruhe einkehrt, das Kind Freude hat, man sich auf sich selbst konzentrieren oder wichtige Dinge mal ohne Unterbrechung erledigen kann. In meinem Fall nutze ich diese Momente gleichzeitig, um Kuschelzeit mit unserem sonst sehr bewegungsfreudigen Sohn zu verbringen. Ich merke, wie mein Puls dann runterfährt und die Zeit kurz stehen bleibt. Ich freue mich, wenn der Kleine über die quakende Ente lacht oder mit den Kindern im Video mitklatscht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihm diese gelegentlichen Bildschirmzeiten nicht schaden werden, weil ich den restlichen Tag über viel mehr Einfluss auf ihn nehmen kann. Wenn unsere Kinder älter werden, wird das Thema vermutlich noch präsenter. Ich kann mir gut vorstellen, die Erziehungsmethode einer Freundin als Vorbild zu nehmen und die Kinder am Anfang der Woche ihre Bildschirmzeiten auf dem Wochenplan eintragen zu lassen. So ermöglicht man ihnen ein gewisses Maß an Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Ich möchte so konsequent wie möglich sein, aber bei Ausnahmen nicht sofort in Selbstzweifel verfallen.

Gesunde Kinder brauchen gesunde Eltern

Ich weiß, dass ein Großteil der Eltern nur das Beste für seine Kinder will. Und um das Beste geben zu können sind gesunde, mit sich selbst im Reinen und möglichst entspannte Eltern notwendig. Dazu zählt beispielsweise, die eigenen Hobbys und Lebensziele trotz Kindern weiterzuverfolgen, um sich selbst und die eigenen Wünsche nicht zu verlieren und regelmäßig einen Ausgleich bzw. eine Pause zu haben. Dabei kann das gelegentliche Einbeziehen von Bildschirmmedien helfen. 

Ich wünsche mir, dass Eltern, die am Spielplatz ihr Handy benutzen oder ihrem Kind während der Busfahrt ein Video auf dem Tablet zeigen, nicht gleich schief angeguckt werden. Wie wäre es stattdessen mit einem ermutigenden Lächeln oder einem Satz der Wertschätzung? Mir würde das Kraft geben. Kraft, die ich jeden Tag benötige, um meinen Kindern eine wunderbare Kindheit zu ermöglichen. 

Es ist 05:50 Uhr, noch immer Sonntagmorgen. Ich entscheide mich gegen das Handy und für das Spielen mit meinem Sohn. Heute konnte ich noch genug Energie dafür aufbringen. Morgen vielleicht nicht. Und das ist ok so. 

 

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Autor: Natalie Molnar

Sozialarbeiterin in Elternzeit, Vollzeitmutter und -ehefrau. Mag Menschen, internationales Essen, Gesellschaftsspiele und Ballsport.

Artikel-Bildnachweis: Orbon Alija – gettyimages.de