Artikel aus dem Hope Magazin
Lebst du noch oder wohnst du schon?
Eine sozialgeschichtliche Perspektive

Wohnen muss jede*r von uns. Ganz egal auf welche Art und Weise, in welchen Verhältnissen und wie: Ob Mietwohnung, Eigenheim, Zwischenmiete, Reihenhaus, Wohnheim oder auch wohnungslos und auf der Straße, das Wohnen haben alle Menschen im weitesten Sinne gemeinsam. Ein Blick in die Geschichte des Wohnens zeigt, dass dies auch schon immer so gewesen ist, obwohl sich die Rahmenbedingungen mit der Zeit stark verändert haben. Während das Wohnen im Mittelalter einen rein funktionalen Zweck hatte und Menschen häufig gemeinsam mit ihren Tieren in einem großen Raum lebten, gewissermaßen also in Zweckgemeinschaften, änderte sich dies schon mit der Neuzeit. Langsam hielten Privatsphäre, Ästhetik und Komfort für die oberen Gesellschaftsschichten Einzug. Emotionale und körperliche Belange sollten von nun an vor den Augen anderer geschützt bleiben.
Dem Schmutz der Stadt entkommen
Die herrschenden Klassenunterschiede wurden während der bürgerlich industriellen Zeit deutlich größer. Damit riss auch die Kluft zwischen den Wohnverhältnissen weiter auf. Viele Menschen strömten in die Städte, um dort in großen Fabriken mithilfe neuer Produktionsweisen Arbeit zu finden. Mit dem Einsetzen dieser Urbanisierung wurde jedoch auch der Wohnraum knapp und insbesondere die Arbeiter*innen hausten oft zu mehreren in dunklen feuchten Hinterhauszimmern, in die häufig für einige Stunden oder Nächte zusätzlich sogenannte Schlafgänger*innen gegen Geld aufgenommen wurden. Um dem Schmutz und Lärm der Stadt zu entkommen, zogen die reicheren Menschen, wie z. B. Fabrikbesitzer*innen deshalb an den Stadtrand. Bemerkenswert ist, dass die schlechten Wohnverhältnisse in der Stadt in dieser Zeit zum ersten Mal an gesamtgesellschaftlicher Bedeutung gewannen. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich Krankheiten schnell ausbreiteten und die Arbeiterwohnquartiere zunehmend außer Kontrolle gerieten, weil nicht ausreichend Wohnraum für alle vorhanden war. So wurde die sogenannte Wohnungsfrage zum Politikum der damaligen Zeit.
Wie du wohnst, beeinflusst dein Leben
Während und nach dem Ersten Weltkrieg sowie in der Zeit der Weimarer Republik, begann die Politik schließlich zum ersten Mal aktiv und umfangreich in das Geschehen am Wohnungsmarkt einzugreifen. Mithilfe von Zwangseinquartierungen, Mietrechten, Wohnungskündigungsschutz und Wohngeld sollte der herrschenden Wohnungsnot der Riegel vorgeschoben werden. Gleichzeitig wuchs das Ideal des bürgerlichen Kleinfamilienlebens am Stadtrand. Dies hatte jedoch den Nachteil langer Wege und teilweiser Isolation ganzer Viertel vom Geschehen in der Stadt. Zu dieser Zeit entstanden zudem erste Ideen davon, wie man das Leben und Verhalten der Menschen durch die Gestaltung von Wohnraum beeinflussen könnte. Klassische und bekannte Beispiele hierfür sind etwa der Bauhaus-Stil oder die sogenannte Frankfurter Küche. Mit Klarheit, Einfachheit und Pragmatismus wollte man die Menschen dazu bringen, ein gut strukturiertes Leben zu führen. Nach der Machtübernahme des Nationalsozialistischen Regimes wurde mehr und mehr eine selektive Wohnungspolitik verfolgt: Menschen, die dem „völkischen“ Ideal entsprachen und es sich leisten konnten, sollte ein Eigenheim in einer Kleinhaussiedlung ermöglicht werden. Ein Ideal, das sich bis heute gehalten hat. Für die unteren Einkommensgruppen wurden sogenannte Volkswohnungen gebaut.
Zerstörung und Neuaufbau
Während des Zweiten Weltkriegs und danach verschlimmerte sich die noch immer andauernde Wohnungsnot enorm, da viel Wohnraum zerstört und ein Großteil der staatlichen Finanzen in die Kriegsführung gesteckt wurde. Den meisten Menschen blieb nichts anderes übrig, als sich der Zwangsbewirtschaftung des noch vorhandenen Wohnraums zu fügen und so beispielsweise in fremden Wohnungen unterzukommen. Mit Kriegsende und der Teilung Deutschlands wurden im Osten im Rahmen der Planwirtschaft viele der sogenannten Plattenbauten errichtet. Diese waren zwar qualitativ wenig hochwertig, für die Menschen jedoch vergleichsweise gut ausgestattet und erschwinglich. Im Westen hingegen wurde durch den wirtschaftlichen Aufschwung, den die Soziale Marktwirtschaft brachte, der soziale Wohnungsbau gefördert. Um die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen, reichte dies jedoch nicht aus, was sich bis heute bemerkbar macht.
Bezahlbarer Wohnraum – ein Kampfthema
Dieser kurze Einblick in die Geschichte des Wohnens zeigt, dass die Art und Weise zu wohnen immer mit den gesellschaftlichen Entwicklungen einhergeht. Sobald sich die Bedürfnisse verändern, entstehen die kleinen und großen Kämpfe um bezahlbaren und guten Wohnraum. Für viele halten diese Kämpfe bis heute ganz individuell und unterschiedlich an.
In meinem Freundeskreis, der vor allem vom studentischen Lebensstil geprägt ist, wohnen die meisten in Wohngemeinschaften. In der Regel sind Freund*innen von mir darauf angewiesen, BaföG oder Unterstützung von den Eltern zu bekommen und dazu noch einem Nebenjob nachzugehen. Zusätzlich dazu stellt sich die Frage, welche Wohnviertel man sich leisten kann. Wurden hier schon Wohnungen von einer der einschlägigen Immobilienfirmen aufgekauft und renoviert, um sie für einen viel höheren Preis weiterzuvermieten? Wie geht man mit der Frage um, vielleicht selbst Teil davon zu sein, dass die alteingesessene Bewohner*innenschaft verdrängt wurde, um Platz für besserverdienende Menschen zu machen? Wie viel Geld ist man überhaupt bereit fürs Wohnen zu zahlen? Wie entscheiden solche Themen vielleicht auch, wo man bei der nächsten Wahl sein Kreuz setzt? Wie ist das Verhältnis zum/zur Vermieter*in oder welche Streitthemen gibt es in der Nachbarschaft und lohnt sich so ein Kampf? Das sind nur einige der Fragen, die mich zum Thema Wohnen immer wieder beschäftigen und die ich regelmäßig im Freund*innenkreis diskutiere. Doch das repräsentiert sicherlich nur einen kleinen Teil dessen, was dieses Thema in der Gesellschaft aufwirft. Welche Fragen stellen sich Eigenheimbesitzer*innen, Vermieter*innen, Menschen, die in Sozialwohnungen leben oder wohnungslose Menschen?
Verantwortungsbewusst wohnen
Was alle gemeinsam haben, ist der Wunsch danach, sich jetzt und vor allem auch in Zukunft keine Sorgen um sicheren, bezahlbaren und schönen Wohnraum machen zu müssen. Doch wie soll das gehen in einer Gesellschaft, in der es immer mehr alte Menschen gibt, die im Alter einsam werden, aber auch nicht im Heim leben möchten. In einer Gesellschaft, die zunehmend Wert auf Selbstverwirklichung und Individualisierung legt, die sich auch auf den Bereich des Wohnens erstreckt.
Wie es sich am besten wohnt, verändert sich stetig
Ohne diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen werten zu wollen oder zu können, wird deutlich, dass sie auch unser ganz persönliches Verhältnis zum Wohnen beeinflussen. Ich halte etwa gemeinschaftliche Wohnformen für eine ressourcenschonende, verbindende und solidarische Möglichkeit, den oben genannten gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzutreten. Es gibt jedoch noch viele andere Antworten auf all die wohnungspolitischen Fragen, denen sich jede*r ganz unterschiedlich und ganz individuell stellen muss.
Hiermit ist der Grundstein für ein komplexes Thema gelegt, das wir natürlich nicht in der gesamten Breite beleuchten können! In den folgenden Artikeln dieser Ausgabe bringen unsere Autoren aber einige Facetten rund ums Wohnen & Leben auf den Tisch; Claudia Mohr bespricht Vor- und Nachteile des Stadt- und Landlebens im Lichte ihres mittlerweile siebten Umzugs während Siegfried Wittwer uns himmlische Aussichten vor Augen malt, in dem er die Aussage von Jesus aufgreift, Wohnungen für diejenigen vorzubereiten, die an ihn glauben. Von der besonderen Erfahrung ein Jahr in freier Natur in einem Zelt zu leben, erzählt Johannes Likar in der Rubrik Ich hab’s ausprobiert. Und wie steht es um Ihre Wohn-Life-Balance?
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Ein Service der Hope Hörbücherei.

Autor: Ammely Varnholt
Sozialarbeiterin. Lebt und arbeitet zur Zeit in Mannheim.