Artikel aus dem Hope Magazin

01.12.2024

Wir schaffen das – wirklich?

Oder: Die Krise in meinem Kopf

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„Wir schaffen das.“ Harmlose drei Worte. Eine Ermutigung. Das, was kommt, kann bewältigt werden. Angela Merkel, die ehemalige Bundeskanzlerin, prägte diese Worte, als sie in der Bundespressekonferenz am 15. August 2015 über die Herausforderungen des Flüchtlingsstromes sprach. Dieser kleine Satz hat viel Wirbel ausgelöst. Wie konnte das geschehen? Politische Analysen über diesen Satz gibt es zuhauf. Mir geht es um die Frage, was dieser Satz in uns persönlich bewirkt.

Wenn ich in mich selbst hineinhorche, ruft dieser Satz in mir eine zwiespältige Reaktion hervor. Einerseits empfinde ich ihn als positiven Zuspruch, der meiner Motivation einen Schub nach vorn gibt. Andererseits habe ich diesen Satz schon gehört und dachte: Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung – was fällt euch ein, mir euren Optimismus überzustülpen! Wenn ihr wüsstet, wie ausweglos und schwierig meine Lage ist, wenn ihr erkennen würdet, wie verzweifelt die Situation aussieht, dann würdet ihr nicht so leichtfertig daherreden. 

OBERFLÄCHLICHER OPTIMISMUS

Wie gehen wir mit Krisen um? Setzen wir uns die rosarote Brille auf und sagen: Wir schaffen das? Oder sind wir ehrlich und bestätigen, wie komplex und bedrückend manche Situationen sein können. Vielleicht haben wir uns im Nachkriegsdeutschland daran gewöhnt, dass im Groben und Ganzen alles bergauf geht und dass wir alle Unsicherheiten im Griff haben. Inzwischen scheint unsere Gesellschaft jedoch von einer Krise in die nächste zu rutschen. Eine Zeitung fragt pointiert: „Bleibt das jetzt so?“ und fügt erklärend hinzu: „Krise als neue Normalität.“ ¹ Hat ein neues Zeitalter begonnen oder war unsere Unbekümmertheit eine Täuschung?

Mit einem oberflächlichen, unredlichen Optimismus kommen wir nicht weiter, das ist klar. Und ein leichtfertiges: „Kopf hoch, es wird schon werden,“ kann mitunter mehr Schaden anrichten als weiterhelfen. Dabei bleibt die Frage: Was hilft wirklich in krisenhaften Zeiten – uns als Gesellschaft und jedem ganz persönlich? Gibt es nur die Alternative zwischen Selbsttäuschung und brutaler Ehrlichkeit, die im verzweifelten Krisenmodus versackt? Was ist wirklich hilfreich?

AUSWEGLOSIGKEIT

„Eine Krise entsteht, wenn die gewohnten Problemlösungsfähigkeiten einer Person nicht mehr ausreichen.“ (Gerald Caplan) Oder anders ausgedrückt: Eine Krise wird zu einer Krise, wenn sie größer erscheint, als meine Fähigkeit, sie zu lösen. Besonders gravierend wird es, wenn man auch bei vermehrter Anstrengung keine Lösung erreicht. Hinterher steckt man noch tiefer im Morast.

DIE KRISE IN MEINEM KOPF

Es kann hilfreich sein, die Krise ansich und meine innerliche Reaktion darauf zu unterscheiden. Diese innere Reaktion wäre dann die Krise in meinem Kopf. Als Beispiel: Wenn mein Auto nicht anspringt, ist das erst einmal eine „Krise“ des Autos. Dem PKW ist es dabei gleichgültig, ob ich zu einem wichtigen auswertigen Termin muss, es fährt einfach nicht, das ist sein einziges Problem. Aber in meinem Kopf fängt es an zu arbeiten wie verrückt:
Diese Besprechung ist die wichtigste des ganzen Jahres. Davon hängt meine gesamte berufliche Zukunft ab! Da muss ich hin. Ich bin verloren und stecke in der Falle. 

Ja, dieser arme Mensch befindet sich wirklich in einer bemitleidenswerten Situation. Und in diesem Augenblick benötigt er sicher keine Belehrung darüber, was in seinem Kopf geschieht, sondern eher Beistand und Verständnis. Aber wenn wieder Ruhe eingekehrt ist, könnte es hilfreich sein zu fragen: Was ist da eigentlich geschehen? Solange ich sage: „Das Auto war schuld“, ist diese Frage einfach beantwortet. Zu einfach, wenn wir daran interessiert sind, aus der Krise zu lernen. Aufschlussreicher ist dagegen zu fragen: Was geschieht in mir, in meinem Kopf, in meinem Inneren? 

Der Vorteil dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass ich dadurch die passive Rolle als Opfer der Krise verlasse. Damit soll nicht geschmälert werden, dass oft sehr belastende und beängstigende Ereignisse geschehen. (Ein defektes Auto ist bei all den gravierenden Krisen um uns herum eher ein kleines Problem). Dennoch hilft es mir nicht weiter, wenn ich die Dinge um mich herum als alleinige Ursache für meine inneren Krise ansehe, sondern frage: Was trage ich dazu bei, dass es überhaupt zu einer inneren Krise wird? 

RUHE

Diese Art der Reflexion wird einfacher, wenn ich zur Ruhe gekommen bin: Erst einmal tief durchatmen, vielleicht ein Telefonat mit einem verständnisvollen Menschen, Entspannungsübungen, mit seinem inneren Selbst in Kontakt treten oder sich in einem Gebet für Gottes Beistand öffnen. Dann beginne ich, wieder klarer zu denken und verrenne mich nicht in sinnlosem Aktionismus.

WAS LIEGT IN MEINER HAND?

Wenn ich unterscheide, was äußere Krise und was innere Reaktion ist, kann ich eine weitere Unterscheidung vornehmen: Was liegt in meiner Hand und was nicht. Die berühmte „Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand“-Methode scheitert nämlich genau an diesem Punkt. Ich habe einfach nicht die Fähigkeit, mit meinem Kopf die Wand zu durchbrechen. Und doch versuche ich es immer wieder. Mir einzugestehen, dass meine Vorstellung nicht weiterhilft, ist nicht einfach. Doch wenn ich bereit bin, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, werde ich auch andere Wege in Betracht ziehen können. Um im Bild zu bleiben: Es ist viel sinnvoller, nach einer Tür zu suchen, als sich eine Gehirnerschütterung zu holen. 

NEUE WEGE AUSPROBIEREN

Sicher, wenn es so einfach wäre eine Tür in der Wand zu finden, hätte ich sie schon längst genutzt. Doch die „unbekannte“ Tür ist für mich noch verborgen. Aber ich habe bereits zwei Unterscheidungen vorgenommen, die mir eine solide Grundlage für das weitere Vorgehen schaffen: Ich schaue auf die innere Krise und nutze das, was in meiner Hand liegt. Jetzt kann ich mich tatsächlich auf den Weg machen, sinnvolle Lösungen zu finden. Ich bleibe nicht mehr bei den Dingen hängen, auf und über die ich sowieso keinen Einfluss habe.

Damit schaue ich mir an, warum ich nicht weiterkomme und beginne nach neuen Wegen zu suchen. Die Krise erscheint nun wie eine Einladung, Wege zu suchen, die weiterhelfen. Manchmal hilft es, ungewöhnliche Ideen zu entwickeln und einfach mal um die Ecke zu denken. Manche Lösungen werden mir zufallen, wenn ich aufhöre, krampfhaft an dem festzuhalten, was nicht funktioniert. Und manchmal finde ich nur eine halbe Lösung. Aber immerhin besser als keine.

Hier liegt nun die Chance in der Krise verborgen. Sie ermöglicht eine neue Sicht auf die Dinge, eine Neuorientierung. Dazu benötigt man manchmal auch externe Hilfe. Auf alle Fälle lohnt es sich, nicht auf die äußere Krise zu starren und sich zu beschweren, dass das Leben ist, wie es ist. Stattdessen können wir die Krise als Chance nutzen, um mehr über uns selbst zu erfahren. So können wir uns weiterentwickeln, verändern, neue Wege gehen und innerlich wachsen.

Bild vom Autor zum Weblog Wir schaffen das – wirklich?

Autor: Dr. Hans-Otto Reling

hat in Deutschland, England und den USA Theologie und Psychologie studiert. Auch nach seiner Pensionierung ist er weiterhin als Hospizseelsorger und als Ausbilder für ehrenamtliche Sterbebegleiter im Ambulanten Hospizdienst in Uelzen aktiv. 

Artikel-Bildnachweis: seb_ra – gettyimages.de