Artikel zum Thema "Glaube"

01.06.2023

Die Zehn Gebote und das Alphabet

Ein Exkurs in Sprachgeschichte

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Erinnert sich noch jemand an den alten Filmklassiker „Die Zehn Gebote“ von Cecil B. DeMille? Nachdem die Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei befreit worden waren und der Armee des Pharaos durch das Rote Meer auf die Sinai-Halbinsel entkommen konnten, erreichten sie schließlich fünfzig Tage später den Berg Sinai.

Unter Blitz und Donner verkündete Gott dort die Zehn Gebote und schrieb sie auf zwei Steintafeln nieder. Doch, was weder Bibel noch Film klären, ist die Frage: In welcher Sprache hat Gott die Zehn Gebote verfasst? Und welche Buchstaben hat er verwendet?

In Hebräisch natürlich, könnte man mutmaßen und dementsprechend mit hebräischen Buchstaben. Wirklich? 

Nur für Gebildete

Googelt man im Internet nach „Zehn Gebote, zwei Steintafeln“ findet man Bilder mit nachgebildeten Steintafeln, auf denen die Gebote in hebräischer Quadratschrift stehen. Doch die entstand erst im 2. Jahrhundert n. Chr. Gott hat sie also zur Zeit von Mose nicht benutzt. Wie sahen die Zehn Gebote aber dann
wohl aus?

Bevor die Israeliten Ägypten verließen, gab es im Vorderen Orient zwei Schriftsprachen: Die ägyptischen Hieroglyphen und die sumerische Keilschrift. Bei den Hieroglyphen handelte es sich um eine Bilderschrift. Für jedes Wort gab es ein Bild oder eine Kombination von Bildern. Hätte Gott sie benutzt, hätte er ganze Wände für die Zehn Gebote gebraucht, nicht nur zwei Steintafeln.

Die Keilschrift der Sumerer war ursprünglich auch eine Bilderschrift, entwickelte sich aber dann zur Lautschrift. Für jeden Laut gab es also Schriftzeichen, die meistens mit einem Griffel in feuchten Lehm gedrückt wurden. Deshalb mussten die Menschen damals bis zu 900 Keilschriftzeichen lernen. Hätte Gott diese Schrift verwendet, wäre das Lesen nur wenigen Gebildeten möglich gewesen. 

Vielleicht ahnen Sie es schon. – Genau, es gab damals auf der ganzen Welt kein Alphabet, auch kein hebräisches, schon gar nicht die hebräische Quadratschrift.

Abgekupfert

Wenn man die Alphabete der Welt vergleicht, entdeckt man viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Geht man dabei immer weiter in die Vergangenheit zurück, wird klar, dass das Alphabet nur einmal in der Geschichte der Menschheit erfunden wurde.

Die Römer haben es von den Griechen übernommen und dabei die Buchstaben vereinfacht. Die Griechen haben es von den Phöniziern. Die Araber und die Inder haben ihre Alphabete von den Aramäern, die Aramäer ebenso von den Phöniziern. Davor liegt die ganze Sache im Dunkeln.

Die ältesten Buchstaben wurden auf der Sinaihalbinsel Serabit el-Chadim gefunden, etwa hundert Kilometer nördlich vom Berg Sinai. Semitische Wanderarbeiter haben sie dort in Stein geritzt. Dass diese auf die Idee gekommen sind, ein Alphabet zu entwickeln, ist aber wenig wahrscheinlich. Worte in Silben zu zerlegen und für diese Silben Zeichen zu entwickeln, ist keine große Kunst. Aber Silben in Vokale und Konsonanten aufzuspalten – dafür braucht es wenigstens einen klugen Kopf.

Eine geniale Idee

Sprachforscher und Archäologen sagen deshalb, dass das Alphabet nur einmal in der Geschichte der Menschheit erfunden wurde – von einem semitischen Volksstamm etwa 1500 v. Chr. Diese Schrift nennt man Protosinaitische Schrift. Von ihr wurde das althebräische und das phönizische Alphabet abgeleitet.

1445/47 v. Chr. sind die Israeliten aus Ägypten ausgewandert und ließen sich am Berg Sinai nieder. Zeit und Ort passen. Kam vielleicht Mose, der die ägyptische Bildung durchlaufen hatte, auf die Idee, aus den ägyptischen Hieroglyphen ein Alphabet zu entwickeln?

„Alp“ ist der Stier bei den Ägyptern, „Bayt“ das Haus, „Gaml“ der Fuß, „Dag“ der Fisch. Aus den Bildern für diese Worte wurden die Buchstaben für „A, B, G, D …“

„Aleph, Beth, Gimel, Daleth“ beginnt das hebräische Alphabet. „Alpha Beta, Gamma, Delta“ nannten die Griechen die ersten Buchstaben. Nun ist auch klar, weshalb es „Alphabet“ heißt und warum es auf die Hieroglyphen zurückgeht.

Nach all der Theorie zurück zum Berg Sinai. Als Gott auf die zwei Steintafeln die Zehn Gebote schrieb, hat er also entweder die Protosinaitischen Buchstaben verwendet oder vielleicht schon das Althebräisch.

„Wer hat’s erfunden?“, würden vielleicht die Schweizer fragen.

Genau genommen, wissen wir es nicht. Vielleicht hatte Mose im Exil den Gedankenblitz, das Schreiben und Lesen von Texten durch Buchstaben zu vereinfachen.

Auf jeden Fall war es eine geniale Idee, die uns das Leben ungemein erleichtert hat.

 

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Autor: Siegfried Wittwer

Pastor i. R., ehem. Leiter des Internationalen Bibelstudien-Instituts

Artikel-Bildnachweis: Joel Carillet – gettyimages.de